Süddeutsche Zeitung

Anschläge in Norwegen:Das verstörende Manifest des Anders Behring Breivik

Bevor Anders Behring Breivik nach Oslo fährt, um die Bombe im Regierungsviertel anzubringen und auf der Insel Utøya Dutzende Jugendliche zu erschießen, setzt er sich an den Computer und verschickt ein Manifest an seine Facebook-Freunde. Auf 1516 Seiten schildert er seinen Hass auf Einwanderer, Muslime und die herrschende Political Correctness. Detailliert dokumentiert er in einem Tagebuch die Vorbereitungen der Anschläge - und wünscht sich einen deutschen Sieg beim Eurovision Song Contest.

Matthias Kolb

Anders Behring Breivik überlässt nichts dem Zufall. Wenige Stunden, bevor er sich auf den Weg in das Osloer Regierungsviertel macht und die Autobombe anbringt, soll er ein 1516-seitiges Manifest an seine 7000 Facebook-Freunde versandt haben. Der 32-jährige mutmaßliche Attentäter hofft auf maximale Wirkung und hat sein Werk, dem er den Titel "Eine europäische Unabhängigkeitserklärung" gegeben hatte, in englischer Sprache verfasst. Neun Jahre Arbeit habe er investiert und mehr als 300.000 Euro - die Summe setze sich aus 130.000 Euro Erspartem sowie entgangenen Einkünften in Höhe von 187.500 Euro zusammen, wie er detailliert aufführt.

Im Vorwort an seine Leser, die er als "Patrioten" bezeichnet, nennt er als oberste Priorität, das Manifest ins Deutsche, Spanische und Französische zu übersetzen - dies habe er wegen der Sprachbarriere nicht gewährleisten können. Allerdings fasste er in einem zwölfminütigen Video namens "Knights Templar 2083 - Movie Trailer" die für ihn wichtigsten Inhalte des Machwerks zusammen und rät seinen Lesern, sich eine Kopie zu ziehen - "es wird wohl nicht für eine lange Zeit verfügbar sein."

Bei der Videoplattform Youtube, die zum Google-Konzern gehört, ist es bereits verschwunden, doch an anderen Stellen im Internet ist das Video weiterhin zu finden, das sich an alle Menschen richte, die sich um die Zukunft Westeuropas Sorgen machen würden.

Darin stellt der Norweger unter dem anglisierten Namen Andrew Berwick die vier Teile seines Machwerks vor: Er untersucht den "Aufstieg des kulturellen Marxismus" und die "islamische Kolonialsierung" Europas, bevor er sich den Kapiteln "Hoffnung" und "Neubeginn" widmet.

Der norwegische Terrorexperte Thomas Hegghammer, der unter anderem an der Harvard University geforscht hat, sieht eine furchterregende Ähnlichkeit zu den Traktaten von Osama bin Laden und anderen Al-Qaida-Führern. Hegghammer sagte der New York Times: "Es wirkt wie ein Versuch, Al-Qaida zu spiegeln." Andere Experten sehen hingegen eine stärkere Ähnlichkeit zu Timothy McVeigh, dem "Oklahoma-Bomber", der 1995 mit einem Anschlag 168 Menschen tötete.

Internationale Medien wie die Daily Mail berichten, Breivik habe den Behörden gestanden, das Video vor seinen Gräueltaten gepostet zu haben. Die New York Times bilanziert: "Selten hat ein des Massenmords Verdächtiger eine so detaillierte Beschreibung seiner Aktivitäten hinterlassen."

"Märtyrer der konservativen Revolution"

Das 1516-seitige Traktat, so viel wird bereits bei einer kursorischen Lektüre deutlich, ist Teil einer großen und irrsinnigen Tat. Offen gibt Breivik bereits in der Einführung zu, er habe schätzungsweise die Hälfte selbst verfasst, der Rest sei aus den Werken "einzelner mutiger Individuen" kompiliert.

Mehrere Passagen machen zudem deutlich, dass sich der 32-Jährige offenbar als eine Art Auserwählter fühlt und sich als "Märtyrer der konservativen Revolution" ansieht. Er berichtet von einem Geheimtreffen, das im April 2002 in London stattgefunden habe, um den Orden der Tempelritter wiederzugründen. Angeblich waren neun Vertreter aus acht Ländern anwesend. Inwieweit die anderen Neu-Tempelritter über Breiviks Pläne informiert waren, ist unklar. Für ihn steht fest: Die Zeit des Dialogs sei vorbei, man habe dem Frieden eine Chance gegeben - vergebens. Es sei im Zweifel besser, zu viele Menschen zu töten als zu wenig, sonst würde keine ausreichend große Schockwirkung erzielt.

Breivik beschreibt vom 2. Mai 2011 an in tagebuchartigen Sequenzen, wie er die Anschläge in dem Bauernhof, der sich "2 bis 2,5 Stunden von der Hauptstadt entfernt" befindet, geplant hat. Laut Handelsregister sollte Breivik hier Gemüse, Melonen und Rüben anbauen - in Wahrheit diente die "Geofarm" als Tarnung, um sechs Tonnen Kunstdünger zu kaufen, der als Sprengstoff genutzt werden kann. Meist ist er nach eigenen Angaben mit seinem geleasten Fiat Doblo unterwegs.

Am 13. Juni gelingt ihm an einem entlegenen Ort der erste erfolgreiche Test mit den Sprengkörpern: "BOOM! The detonation was successful!!!:-)". Breivik zwingt sich, ein paar Stunden abzuwarten. Er besucht ein Restaurant, bevor er die Auswirkungen der Explosion begutachtet. Er ist zufrieden und schreibt: "Heute war ein sehr guter Tag, diesen Erfolg habe ich wirklich gebraucht".

In den 1516 Seiten finden sich auch Schilderungen, wie er am 14. Mai den Eurovision Song Contest verfolgt: "I just love Eurovision...!:-)" Die Emoticons aus der Internetsprache verwendet Breivik öfter. Der Wettbewerb, der dieses Jahr in Düsseldorf stattfindet, biete zwar "eine Menge Scheißmusik, aber alles in allem ist es eine gute Show."

Ein gutes Abschneiden Norwegens wünscht er sich nicht: Für die Skandinavier singt Stella Nyambura Mwangi. Sie wurde in Kenia geboren und kam 1991, noch als Kind mit ihrer Familie nach Norwegen. Breivik schreibt enttäuscht: "Mein Land schickt wie immer einen beschissenen, politisch korrekten Teilnehmer." Der Beitrag endet mit dem Satz: "In any case, I hope Germany wins."

Sollte er mit dem Attentat scheitern und entkommen, so schreibt Breivik an anderer Stelle, könne er sich auch vorstellen, im Ausland für eine Sicherheitsfirma zu arbeiten, um dort in kürzester Zeit viel Geld zu verdienen, um die Schulden zurückzuzahlen.

In dem Manuskript interviewt sich Breivik auch selbst. Seine Operationen habe er alleine geplant und zur Sicherheit mit niemandem darüber geredet. Der Attentäter beschreibt seine Kindheit mit vier Halbschwestern - er habe zu viel Freiheit bekommen. Ein ehemaliger Schulkamerad sagte hingegen im Fernsehen, Breivik sei einer der Starken gewesen, die den Schwachen halfen. "Er ist blond, blauäugig und kalt wie Eis", beschreibt ihn dagegen ein Vernehmungsbeamter. Der 32-Jährige sei "aus dem Nichts" aufgetaucht und vorher noch nie polizeilich aufgefallen.

Fan von Immanuel Kant, Adam Smith und klassischer Musik

Im Internet hinterlässt Breivik neben dem voluminösen Manifest noch weitere sorgfältig inszenierte Visitenkarten: Die Profile unter seinem Namen bei Facebook und dem Kurznachrichtendienst Twitter sind erst am 17. Juli entstanden. Auf Twitter steht nur dieser Satz des Philosophen John Stuart Mill: "Eine einzelne Person mit einer Überzeugung ist so mächtig wie Hunderttausende, die nur Interessen verfolgen."

In der Öffentlichkeit will Breivik als konservativer Christ gesehen werden. Der Facebook-Seite zufolge, die zwar vom Betreiber gelöscht, aber von der Netzgemeinde gesichert wurde, hat er ein Osloer Handelsgymnasium besucht. Er gehe gerne jagen, spiele "Worlds of Warcraft". Als Idole nennt er den britischen Premierminister Winston Churchill (1874-1965) und Max Manus (1914-96) - Widerstandskämpfer während der Zeit der deutschen Besetzung Norwegens. Das Profil outet ihn als Liebhaber klassischer Musik, Kants "Kritik der reinen Vernunft" und Adam Smiths "Der Wohlstand der Nationen".

Deutlicher sind die nationalistischen Einträge unter dem Namen Anders B. Breivik auf der islamkritischen Internetseite document.no: Wortgewandt teilt er in den schon älteren Einträgen die Welt in kulturkonservative Menschen und Multikulturalisten, die eine "anti-europäische Hassideologie" vertreten. Ihr Ziel sei es, die europäische Kultur, die Nationalstaaten und das Christentum zu zerstören.

Menschenverachtendes Denken

Darauf geht Breivik in seinem "Manifest" detailliert ein. Er listet Rezepte zur Herstellung von Sprengstoffen und Chemikalien auf. Ein Foto zeigt Breivik mit Schutzanzug und Gasmaske beim Hantieren mit Chemikalien. Dem norwegischen Fernsehsender NRK zufolge hat Breivik als Mitglied in einem Osloer Pistolenklub zwei registrierte Waffen. Auf einem weiteren Foto trägt er einen Taucheranzug, hält ein Sturmgewehr - auf dem Arm ein Aufnäher mit den Worten "Marxist Hunter Norwegen - Erlaubnis zur Jagd von Multi-Kulti-Verrätern".

Das menschenverachtende Denken Breiviks wird in seinen Schriften ständig sichtbar, etwa wenn er jene Verkleidung andeutet, mit der er auf die Ferieninsel Utøya fuhr. Am 21. Juli, einen Tag vor dem Attentat, notiert er: "Erste Kostümparty des Herbstes. Kleide dich wie ein Polizist und trage die entsprechenden Abzeichen. Es wird fantastisch, denn die Leute werden sehr überrascht sein."

Der vergangene Freitag ist der 82. Tag, an dem Breivik seine Gedanken notiert. Er betont, dass das alte Sprichwort "Wenn du etwas erledigt haben willst, dann musst du es selbst tun" für ihn weiterhin gilt. Dann tippt er in den Computer: "Ich glaube, dies wird mein letzter Eintrag sein. Es ist jetzt Freitag, der 22. Juli, 12:51 Uhr."

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