Das ganze Elend dieser Dresdner Nacht liegt in der Frage eines Kindes. Das Kind heißt Ibrahim Ismail Turan, es ist zehn Jahre alt und sitzt am Dienstag an einem schlichten Holztisch in der schlichten Fatih-Moschee an der etwas weniger schlichten Hühndorfer Straße. Der Vater des Kindes ist Imam in dieser Moschee, die Familie wohnt im selben Gebäudekomplex. Und so erzählt das Kind, bevor es seine Frage stellt, zunächst, wie das war am Abend zuvor.
Ibrahim Ismail Turan sagt, seine Mutter und sein Bruder seien bereits zu Bett gegangen, er habe noch ferngesehen. Dann sei plötzlich etwas von draußen zu hören gewesen, auch habe er ein Leuchten vor dem Fenster gesehen "und dann habe ich wieder was gehört, so bumm!" Ibrahim sagt, er sei zur Tür gerannt, die habe offen gestanden. Draußen brannte es, drinnen auch ein bisschen. Ibrahim sagt, er habe geschrien, erst nach seiner Mutter, dann nach seinem Vater, der noch in der Moschee nebenan war. Die Mutter kam, der Vater auch. Ibrahim sagt, er habe nun, am Tag danach, ein bisschen Angst. Aber sein Vater habe ihm versprochen, dass Gott die Familie beschütze.
"Werden Sie ihn finden, schaffen Sie es?"
Gegenüber von Ibrahim sitzt seine Mutter, immer wieder greift sie sich an die Augen, um wegzuwischen, was sonst kullern würde. Neben dem Tisch stehen zwei Beamte der Polizei. Draußen läuft über die Nachrichtenticker schon die Information, dass bei den beiden Sprengstoffanschlägen niemand verletzt worden sei. Es heißt, die Polizei suche nach Tätern. Und es wird an diesem Dienstag auch noch heißen, dass sich jetzt bitte trotzdem alle freuen sollen und können auf den großen Zirkus, der in die Stadt kommt, zum Tag der Deutschen Einheit, der in diesem Jahr zentral in Dresden gefeiert werden soll.
Auf dem Tisch vor Ibrahim steht eine Tasse Kräutertee, er trinkt sie in wenigen Zügen aus, dann atmet er tief ein. Ibrahim schaut zu den Beamten, es ist ein banger Blick, trotz des Versprechens seines Vaters. Ibrahim stellt nun also die Frage, die ihn drängt und die ihm und seiner Familie besser erspart geblieben wäre: "Werden Sie ihn finden, schaffen Sie es?"
Als Antwort haben die freundlichen Beamten nur ihre Hoffnung anzubieten, und selbst wenn man die Frage mitnimmt, zur Pressekonferenz in die Schießgasse, weiß man dort nicht so richtig, wie man sie beantworten soll. Der Termin im Einsatzzentrum der Dresdner Polizei war schon vor Tagen anberaumt worden, die Einsatzleitung wollte das Sicherheitskonzept zum Tag der Deutschen Einheit erläutern und die eigene Leistung schon einmal vermessen: 3800 Meter Hamburger Gitter, 2600 Einsatzkräfte und 1400 Betonsteine, die Anschläge mit fahrenden Autos verhindern sollen und noch vor ihrer Bewährungsprobe den traurig präzisen Spitznamen "Nizza-Sperre" erhalten haben.