Baerbock in Pattensen:(K)ein Heimspiel

Wahlkampf Bündnis 90/Die Grünen - Baerbock in Pattensen

Daheim in Pattensen: Annalena Baerbock spricht bei einem Wahlkampfauftritt auf dem Schützenplatz ihres Heimatortes.

(Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Annalena Baerbock tritt in ihrer alten Heimat Pattensen auf. Große Euphorie um ihre Person kommt dort aber nicht auf.

Von Jonah Wermter, Pattensen

Pattensen ist nicht gerade eine Pflichtstation im Wahlkampfkalender einer Kanzlerkandidatin. Dass Annalena Baerbock am Samstag trotzdem in die 15 000-Einwohner-Stadt zwischen Hannover und Hildesheim kam, liegt schlicht daran, dass es ihre Heimatstadt ist. Oder wie sie selber sagt: "Weil mir Pattensen am Herzen liegt!" Baerbock wurde im nahen Hannover geboren und wuchs ab dem fünften Lebensjahr im Ortsteil Schulenburg auf. Beim örtlichen Turn- und Sportverein wurde sie zur Leistungs-Trampolinspringerin, die im Jugendbereich auch Medaillen bei internationalen Meisterschaften ersprang. In dieser Zeit habe sie gelernt, wie wichtig Teamplay und das Miteinander in einer Gesellschaft seien, sagt sie bei ihrem heutigen Auftritt. Mit 20 zog sie erst nach Hamburg, dann London, schließlich Potsdam. An diesem Wochenende kehrte sie als Anwärterin auf das wichtigste Amt der Bundesrepublik Deutschland zurück.

Ein Heimspiel im sprichwörtlichen Sinne war es dennoch nicht, das zeigt schon ein Spaziergang durch den Ortskern von Pattensen. An den Laternen rund um den von sanierten Fachwerkhäusern gesäumten Marktplatz hängen fast ausschließlich Plakate von SPD und CDU, hier und da ergänzt von der FDP. Auch an der Hauptstraße werben die großen Tafeln für die unterschiedlichsten Kandidatinnen und Kandidaten dieser drei Parteien - in Niedersachsen stehen auch Kommunalwahlen an. Wahlwerbung der Grünen muss man aufmerksam suchen. Niedersachsen ist traditionell ein SPD-Land, das gilt auch für die Region Hannover, zu der Pattensen zählt. Und so ist von Aufregung oder gar Euphorie ob des grünen Besuchs im Ort wenig zu spüren.

Auch auf dem Schützenplatz, auf dem Baerbock auftreten soll, ist um kurz vor halb fünf noch eine Menge Platz, gut 350 Personen sind gekommen. Das Publikum wirkt auffallend durchmischt, alle Altersgruppen sind vertreten, die Dichte der "FCK NZS"-Turnbeutel ist ähnlich hoch wie die der Polohemd-Träger. Die meisten Anwesenden tummeln sich am Seitenstreifen, wo eine Hecke ein bisschen Schatten spendet. Die Nachmittagssonne scheint beweisen zu wollen, dass es tatsächlich Mitte August ist - und damit nur noch sechs Wochen bis zur Bundestagswahl.

Entsprechend groß ist der Hunger nach politischen Inhalten. Das ist sofort zu spüren, als der grüne Wahlkampf-Tourbus mit Baerbocks Konterfei pünktlich auf die Wiese einbiegt. Aufgeregt verlassen die Anwesenden den Schatten und scharen sich um den abgesperrten Kreis mit Podium und Papphockern in der Mitte. Der angemahnte Abstand von 1,5 Metern kann so nicht mehr eingehalten werden. Immerhin werden nach einer einmaligen Ansage der Polizei brav die Masken getragen.

Als Annalena, wie die Kanzlerkandidatin hier nur genannt wird, zu Lizzos Gute-Laune-Hit Juice aussteigt, wird sie von lautem Applaus empfangen. Der überwiegende Teil der Anwesenden sympathisiert schon vor der Rede sichtlich mit den Grünen. Und so lauschen sie aufmerksam der energischen Rede von Vorrednerin Frauke Patzke, die sich als Regionspräsidentin für die Grünen bewirbt und über ihre konkreten Pläne einer ökologischen und sozialen Transformation der Region spricht: Mit der Landwirtschaft, mit der Industrie und mit den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort, wie sie sagt. Mit ihrem selbstbewussten Auftreten und den präzise gesetzten Angriffen auf die Politik von SPD und CDU hinterlässt sie bei vielen Anwesenden nachhaltig Eindruck und erntet lauten Applaus. Die Bühne verlässt sie mit den Worten: "Es geht anders, aber anders geht es nur mit uns."

Eine Überleitung, die Baerbock gerne aufnimmt. Auch sie wirkt selbstsicher auf der Bühne, spricht frei, ihre Stimme klingt freudig entschlossen. Keine Spur von der Unsicherheit oder Ermüdung, wie bei Wahlkampfauftritten in den vergangenen Wochen mitunter zu beobachten war. Sie scheint sich wohlzufühlen in ihrer alten Heimat. So spricht sie die ersten 10 Minuten über die regionale Infrastruktur, bedankt sich bei engagierten Pattenserinnen und Pattensern für den Erhalt des Hallenbades, in dem sie selbst einst Schwimmen lernte. Und sie sprach von den Busfahrplänen, die schon zu ihrer Jugendzeit ungenügend gewesen sein und vor kurzem noch einmal gekürzt wurden.

Davon fühlen sich gerade die vielen Jugendlichen auf dem Schützenplatz abgeholt - Baerbocks Forderungen nach stündlichen Fahrten bis in die Nachtstunden scheint vielen ein Anliegen zu sein. Sie versichert, die Finanzierung der regionalen Infrastruktur zur Priorität zu machen. Zwar könnten auch die Grünen kein Geld herbeizaubern, aber im Gegensatz zu anderen Parteien hätten sie zumindest einen Plan: "Wir sind der Meinung: Damit unsere Kinder sicher Schwimmen lernen können, damit wir vor Ort ein gut ausgestattetes Krankenhaus haben und genügend Feuerwehren, dafür können die, die viel haben, zumindest ein Prozent ihres Vermögens als Steuer abgeben", ruft die Kanzlerkandidatin dem Publikum entgegen, und fügt hinzu: "Was ich in keinem Fall akzeptieren werde, ist, sich wie die Union bessere Kindergärten und Schulen auf die Wahlplakate zu schreiben, und dann am Ende doch wieder kein Geld dafür übrig zu haben." Ein erster Fingerzeig für mögliche Koalitionsverhandlungen? Auf jeden Fall sorgt ihre Ansage für den lautesten und längsten Applaus des Nachmittags.

Anschießend spricht sie über Sportvereine, die in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt hätten. Ihre ehemalige Trampolintrainerin ist eingeladen und darf sich einen Applaus des Publikums abholen. Baerbock sagt, Vereine seien ein Kitt für die Gesellschaft und wichtiger Anker für Jugendliche gerade im ländlichen Raum.

Erst dann, etwa zur Hälfte ihrer Rede, kommt sie auf die Klimakrise zu sprechen - ein Thema, bei dem sich alle vor Ort einig sind. Und so nutzt Baerbock es, um ihren Regierungsanspruch zu unterstreichen: "Es reicht einfach nicht, Klimapolitik nur aus dem Bundesumweltamt heraus zu machen." Klimaschutz sei das Querschnittsthema, das in allen Regierungsteilen und darüber hinaus mitgedacht werden müsse: "Die Gesellschaft ist bereit, die Industrie ist bereit, es wird Zeit, dass auch die Regierung bereit ist."

Es folgen Ausführungen zur Digitalisierung ("Es gibt keine Milchkannen. Jedes Dorf braucht einen Glasfaseranschluss, so wie jedes Dorf einen Briefkasten braucht."), Migrations- und Fluchtpolitik ("Uns ist Lesbos nicht egal, wir wollen eine humanitäre europäische Flüchtlingspolitik auch an den Außengrenzen"), und dem Gesundheitssystem ("Das Zwei-Klassen-System bei den Krankenkassen schadet uns allen.")

Nach einer kurzen Fragerunde, deren einzige Erkenntnis bleibt, dass die Grünen gegen eine Anhebung des Kinderfreibetrags sind, lichten sich die Reihen auf dem Schützenplatz schnell. Eine Gruppe junger Mädchen unterhält sich abseits noch ein wenig. "Eine Kanzlerinnenkandidatin in unserem Ort wollten wir uns nicht entgehen lassen", sagt die 18-jährige Mila, die sich im örtlichen Jugendparlament engagiert. Sie käme aus demselben Ortsteil wie Baerbock und könne daher deren Ausführungen zur Jugend auf dem Land verstehen: "Als Erstwählerin fühle ich mich da ernster genommen als zum Beispiel von Armin Laschet, der Interviews mit jungen Menschen absagt."

Auch Hans-Friedrich Wulkopf gefiel Baerbocks Auftritt - trotz mancher politischer Differenzen: Der 75-Jährige sitzt für die Freien Wähler im Pattenser Stadtrat. Als ehemaliger Vorstand des regionalen Sportrings kennt er Baerbock zudem noch als Jugendliche, und traut ihr einiges zu: "Mit meiner Lebenserfahrung merkt man, wenn jemand ehrlich überzeugend ist. Und sie ist es."

Dass Baerbock aus ihrer Region komme, sei zwar schön, aber kein ausschlaggebender Wahlgrund, darin sind sich alle Angesprochenen einig. Viel Aufregung um ihre Person hätte es im Ort ohnehin nicht gegeben, berichten mehrere Mitglieder des Schießclubs, dessen Vereinsheim direkt am Schützenplatz liegt. "Pattensen hat 15.000 Einwohner, und hier waren 350 Leute, die aus der gesamten Region kamen. Wenn Scholz oder Söder herkämen, wäre der Platz rappelvoll", ist sich einer von ihnen sicher, der für die CDU als Ortsbürgermeister kandidiert. Allzu gut ist man beim Schießclub auf die Grünen ohnehin nicht zu sprechen. Denn die wollen das Waffenrecht so reformieren, dass die örtliche Anlage für zehntausende Euro umgebaut werden müsste - Geld, dass der Verein nicht hätte. Für Fragen, ob das versprochene Geld für Infrastruktur und Vereine auch bei ihnen ankäme, hätte Baerbock dann keine Zeit mehr gehabt.

Wie relevant das Thema Infrastruktur in Pattensen ist, zeigt sich nach der Veranstaltung an der Bushaltestelle: Statt eines regulären Busses fährt Samstagabends nur ein Taxi mit sechs Sitzplätzen auf der Linie zum nächsten Bahnhof. Das reicht heute nicht aus, zwei zusätzliche Taxen müssen gerufen werden. Die Fahrgäste warten noch eine Weile.

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