Die Europäische Zentralbank muss ihr 2015 aufgelegtes und noch laufendes Anleihekaufprogramm nachvollziehbar begründen und damit gerichtlich überprüfbar machen. Das folgt aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Erstmals hat das Karlsruher Gericht damit Beschlüsse der EZB beanstandet. Das Public Sector Purchase Programme (PSPP), das den größten Teil des 2,8 Billionen Euro schweren Kaufprogramms ausmacht, sei offensichtlich nicht von der europäischen Kompetenzordnung gedeckt, heißt es in der Entscheidung des Zweiten Senats unter Vorsitz von Andreas Voßkuhle. Allerdings dürfte der Spruch aus Karlsruhe ohne unmittelbare ökonomische Konsequenzen bleiben. Da Karlsruhe die EZB-Beschlüsse nicht direkt beanstanden kann, hat das Gericht der Bundesbank die weitere Mitwirkung an dem Kaufprogramm untersagt - aber nur für den Fall, dass die EZB nicht binnen drei Monaten eine nachvollziehbare Begründung ihres Programms nachliefert. Dem Urteil zufolge sind nun auch Bundesregierung und Bundestag verpflichtet, der bisherigen Handhabung des EZB-Kaufprogramms entgegenzutreten.
Zuständig für die Kontrolle der EZB ist der Europäische Gerichtshof in Luxemburg - auch an seine Adresse richtet sich die Rüge aus Karlsruhe: Der EuGH habe ebenfalls außerhalb seiner Zuständigkeit gehandelt, weil er in seinem Urteil von 2018 der Zentralbank keine echte Prüfung der Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen abverlangt habe. Es ist das erste Mal, dass das Bundesverfassungsgericht ein Urteil des EuGH für unanwendbar erklärt. Das Urteil sei "offensichtlich nicht von der europäischen Kompetenzordnung gedeckt" und könne in Deutschland keine Wirkung entfalten, sagte Voßkuhle.
Ob damit die EZB im Ergebnis ihre Befugnisse tatsächlich überzogen hat - sie ist für die Preisstabilität zuständig, darf aber keine eigene Wirtschaftspolitik betreiben -, bleibt aber offen. Die Verfassungsrichter mahnen lediglich an, bei der Abwägung solcher Maßnahmen auch wirtschaftliche und soziale Konsequenzen mit in den Blick zu nehmen - etwa niedrige Sparzinsen oder hohe Immobilienpreise. Dass die EZB gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung verstoßen habe, konnte das Gericht nicht feststellen. Voßkuhle hielt zudem fest: "Aktuelle finanzielle Hilfsmaßnahmen der Europäischen Union oder der EZB im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Corona-Krise sind nicht Gegenstand der Entscheidung."
Die Bundesregierung reagierte verhalten auf das Urteil. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) verwies darauf, dass nach dem Karlsruher Urteil die Anleihenkäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) nicht im grundsätzlichen Widerspruch zum Grundgesetz stehen würden. Das Gericht habe "klar festgestellt: Das Anleiheprogramm der Europäischen Zentralbank ist keine monetäre Staatsfinanzierung", sagte Scholz. "In dieser Hinsicht" befinde sich das Programm im Einklang mit dem deutschen Grundgesetz.
Die Bundesbank darf sich an dem Kaufprogramm nur unter Auflagen weiter beteiligen. Finanzstaatssekretär Jörg Kukies sagte zu, dass sich die Bundesregierung bei der Europäischen Zentralbank für eine gründliche Prüfung der beanstandeten Staatsanleihenkäufe einsetzen werde. "Darauf werden wir natürlich hinwirken, das ist klar", sagte Kukies in Karlsruhe. "Wir gehen auch davon aus, dass die EZB das tun wird." In Frankfurt kam der EZB-Rat nach dem Urteil zu einer Sitzung zusammen. Für den frühen Abend wurde eine Stellungnahme erwartet.
In Deutschland wurde das Urteil unterschiedlich aufgenommen. Der frühere AfD-Politiker Bernd Lucke lobte die Entscheidung. Er sei "sehr erfreut darüber, dass das Bundesverfassungsgericht uns im Wesentlichen recht gegeben hat in unseren Klagen", sagte Lucke nach dem Urteil. Der Volkswirtschaftsprofessor hatte 2013 maßgeblich die AfD mitbegründet mit dem expliziten Ziel, den Euro abzuschaffen. Lucke sieht sich in seiner Einschätzung bestätigt, dass die Europäische Zentralbank ihre Kompetenzen überschritten habe und "dass auch der Europäische Gerichtshof seine Kompetenzen überschritten hat, als er das EZB-Verhalten einfach durchwinken wollte".
Die Europa-Expertin der Grünen im Bundestag, Franziska Brantner, kritisierte die Bundesregierung dafür, die EZB alleinzulassen. "Es zeigt sich nun, wie gefährlich es ist, die EZB als Feuerwehr der Europäischen Union zu überfrachten. Diesen Brand der Corona-Krise müssen die EU-Mitgliedstaaten gemeinsam löschen - mit einem über eine gemeinsame Anleihe finanzierten Wiederaufbaufonds von über einer Billion Euro".