Süddeutsche Zeitung

Anklage gegen Ex-Bundespräsidenten:Wulffs zweite Chance

Christian Wulff galt als Politiker, der jedes Gespür für Verhältnismäßigkeit verloren hatte. Jetzt kann man genau das der Justiz vorwerfen - übrig ist eine dünne, vom Gericht noch einmal zurechtgestutzte Anklage wegen Vorteilsannahme. Politisch gescheitert zu sein, wird Wulff weiter anhängen. Seine persönliche Integrität aber ist noch zu retten.

Ein Kommentar von Ralf Wiegand, Hannover

Man hat das ja schon länger geahnt, spätestens seit seiner zähen Wahl zum Bundespräsidenten: An Christian Wulff scheiden sich die Geister. Beinahe wäre es schon vor gut drei Jahren, bei der Abstimmung über den höchsten Mann im Staat, zur Katastrophe für die schwarz-gelbe Koalition gekommen. Drei Wahlgänge waren nötig für eine dünne, einfache Mehrheit. Fast so viele waren gegen ihn wie für ihn. Seine spätere Äußerung, der Islam gehöre "auch zu Deutschland": Wieder hielten sich Ablehnung und Zustimmung die Waage. Und seine Art: jugendlich und smart? Oder doch eher kalt und glatt? Für die einen so, für die anderen so.

An dem Mann aus Osnabrück haben sich viele abgearbeitet, ohne seinen steilen Aufstieg bis ins höchste Amt des Staates dabei verhindern zu können. Und nun, am Ende seines noch steileren Wegs nach unten, ist die Lage schon wieder eindeutig unentschieden.

Eine Art wandelndes 0:0

Viele Monate lang haben viele Ermittler sehr viel Papier bedruckt, gut 20 000 Seiten, befüllt mit Vernehmungsprotokollen von mehr als 100 Zeugen, Einkaufsquittungen, Tagebucheinträgen, Kurznachrichten. Ein gewaltiger Aufwand war das für eine bemühte Anklage gegen den ehemaligen Bundespräsidenten, die ihn gerade so der Bestechlichkeit bezichtigte. Fall erledigt, Sache klar? Nein. Der Platz, den die Geschichte Christian Wulff zuweisen wird, ist noch immer nicht gefunden. Der Mann ist eine Art wandelndes 0:0. Es geht mal wieder irgendwie alles von vorne los.

Für Christian Wulff ist der Beschluss des Landgerichts Hannover eine Art zweite Chance. Zwar wird die Anklage gegen ihn und seinen Spezl David Groenewold zugelassen, aber das Hauptverfahren wird nur wegen Vorteilsannahme und -gewährung eröffnet, nicht wegen Bestechlichkeit und Bestechung. Er mag der erste Bundespräsident sein, der auf der Anklagebank landen wird, ein nicht zu tilgender Makel in der Biografie. Aber die Eindeutigkeit, die Wulffs Abstieg begleitet hatte, das Kopfschütteln über den Immobilienkredit von einem befreundeten Unternehmer, die Empörung über seinen Anruf beim Chefredakteur der Bild-Zeitung, all die Halbwahrheiten auf dem Weg bis zum unausweichlichen Rücktritt, schließlich noch die öffentliche Trennung von Gattin Bettina - längst hat sich diese Eindeutigkeit aufgelöst.

Wulff galt als Politiker, der jedes Gespür für Verhältnismäßigkeit verloren hatte. Jetzt aber kann man genau das der Justiz vorwerfen: Maßlosigkeit in der Wahl der Mittel, um eine ohnehin dünne, vom Gericht noch einmal zurechtgestutzte Anklage hinzubekommen. Diejenigen, die noch der Meinung sind, es erwische endlich mal den Richtigen, sind weniger geworden.

Wulff erhält vor Gericht nun die Gelegenheit, sich vom Täter zum Opfer zu wandeln. Politisch gescheitert zu sein, wird ihm weiter anhängen. Seine persönliche Integrität aber ist noch zu retten. Die Chancen stehen, typisch Wulff, 50 zu 50 - das Gericht bescheinigt ihm eine "ungefähr gleiche Verurteilungs- wie Nichtverurteilungswahrscheinlichkeit".

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SZ vom 28.08.2013/mane
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