Ankara und der EU-Beitritt:Der lange Weg der Türkei

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Wo steht die Türkei? Sie ist noch nicht reif für einen Beitritt zur EU - aber man darf ihr große Schritte in Richtung echte Demokratie zutrauen. Ankara braucht jedoch Unterstützung.

Kai Strittmatter, Istanbul

Die Türkei ist noch nicht reif für einen Beitritt zur Europäischen Union. Den Satz hört man wieder oft in diesen Tagen. Und er stimmt.

Die Gründe lassen sich nachlesen im neuesten Türkei-Fortschrittsbericht der EU. Aber darum geht es nicht. Wer so tut, als stünde schon morgen der Beitritt eines armen, bevölkerungsreichen, demokratisch nicht gefestigten Landes bevor, ist unehrlich.

Der Beitrittsprozess wird noch 15 bis 20 Jahre dauern. Und alles, was der Türkei bisher versprochen wurde, ist die Chance, sich in dieser Zeit in ein Land zu verwandeln, das europäischen Normen und Werten genügt. Nur dann würde es die EU in ihre Mitte nehmen. Die Türkei hat diese Chance verdient, und auch die EU kann dabei nur gewinnen.

Großer Frust

Es ist nicht schwer, beim Blick auf den politischen Alltag in der Türkei gelegentlich in Trübsinn zu verfallen. Das ist nicht nur in Brüssel, Paris und Berlin so, das ist auch unter Türken ein gern gepflegter Gemütszustand. Die Herausforderungen sind gewaltig, der Frust ist oft groß. Da hilft es, zur Abwechslung wieder einmal aus der Vogelperspektive herabzuschauen - und sofort sieht das Bild anders aus: Die Türkei durchlebt eine historische Transformation.

Man blicke nur ein Jahrzehnt zurück, ins Jahr 1999. Ein Scheidejahr für zwei Riesen am Rande Europas: für Russland und die Türkei. Beide kämpften mit einem autoritären Erbe, mit der Vorherrschaft von Bürokratie und Sicherheitsapparat, beide hatten erste Pflänzlein von Zivilgesellschaft und Demokratie gesät.

Dann kam 1999. In Russland übernahm Wladimir Putin. Und die Türkei? Wurde in Helsinki von der EU in den Stand eines Beitrittskandidaten erhoben. Nun schaue man sich zehn Jahre später beide Länder an. Die Türkei hat Erstaunliches erreicht. Sie hat - vor allem in den ersten Amtsjahren der Regierung von Tayyip Erdogan, von 2002 bis 2005 - alte Zöpfe abgeschnitten.

Wirtschafts-Monopole wurden gebrochen, kein ideologisches Tabu blieb unangetastet. Die Türkei war wohl nie so weltoffen, so wohlhabend, so demokratisch wie heute. Sie hat eine lebendige Zivilgesellschaft und eine Presse, der man eher ein Zuviel als ein Zuwenig an erregter Debatte vorwerfen möchte.

Die EU und das Charisma

Der alte Apparat, die Europa-Hasser, die Verschwörungstheoretiker, die Zensoren, die Staatsanwälte auf der Jagd nach freien Geistern, diejenigen, die im Dunkeln politische Morde planen: Sie alle gibt es in der Türkei auch noch. Aber sie sind auf dem Rückzug. Dank der EU-Reformen. In Russland sind sie Teil der Macht. Eigentlich müsste die EU glücklich sein: Es gibt kaum ein besseres Beispiel für die vielzitierte "soft power", für das weltverändernde Charisma der EU, als die Türkei.

Wie verrückt, das alles immer wieder mit leichtfertigem Populismus zu gefährden. Die Frage, die sich die Beitrittsgegner in Berlin und Paris stellen sollten: Können, wollen wir uns das russische Modell für die Türkei leisten?

Viele von der EU kritisierten Defizite sind die Übel des noch immer mächtigen alten Systems, mit dem die Regierung in Ankara selbst ringt: der politische Einfluss des Militärs, die undemokratische Justiz, Gesetze, die den vor Gericht bringen, der den 1938 verstorbenen Republikgründer Atatürk kritisiert.

Anderes muss man Erdogan und seiner Regierungspartei AKP vorwerfen: etwa die wachsende Korruption, den Reformstillstand nach 2005, das noch immer geschlossene orthodoxe Priesterseminar, die absurde Internetzensur und das offensichtlich politisch motivierte Steuerverfahren gegen die Dogan-Mediengruppe.

"Geiseln im Lager der Regierung"

Erdogan und die AKP haben also einige schwarze Flecken auf ihrer Weste - und trotzdem fühlen sich gerade Liberale und Menschenrechtler als "Geiseln im Lager der Regierung", wie einer ironisch schrieb; sie sehen sich genötigt, Erdogan zu unterstützen, auch wenn ihnen nicht alles gefällt.

Weil alle Alternativen schlimmer sind. Wenn es nämlich ein Versagen des demokratischen Systems in der Türkei gibt, dann ist es das Versagen der Opposition: Die große oppositionelle CHP nennt sich sozialdemokratisch und betreibt doch eine erznationalistische, antieuropäische Politik.

Nach drei Jahren Frust und Stillstand hat die Regierung in Ankara nun auch wieder alle überrascht. Erneut geschieht eben noch Unvorstellbares. Das gilt für die Außenpolitik, wie die historische Annäherung an Armenien zeigt. Und das gilt für die Innenpolitik. Zum Beispiel im Prozess gegen den Ergenekon-Geheimbund: Mit einem Mal müssen sich Generäle vor einem Richter verantworten. Mit einem Mal dürfen auch Privatsender 24 Stunden auf Kurdisch senden.

Die Türkei in 15 Jahren wird nicht die Türkei von 2009 sein. Sie wird wirtschaftlich weit schneller wachsen als alle EU-Länder. Und man darf ihr große Schritte in Richtung echte Demokratie zutrauen.

Dass die Türkei "strukturell beitrittsunfähig" sei, wie am Mittwoch ein CDU-Mann sagte, ist Unsinn. Garantiert ist ein guter Ausgang der EU-Gespräche allerdings nicht. Gestaltungsmacht hat die alte undemokratische Elite in Armee, Bürokratie und Justiz im Moment keine mehr - aber die Macht zur Sabotage ist ihr geblieben.

Premier Erdogan und die türkischen Demokraten brauchen jede Unterstützung, die sie bekommen können. Europa sollte sie ihnen geben.

© SZ vom 15.10.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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