Süddeutsche Zeitung

Ankara:Militärputsch in der Türkei

Die Streitkräfte behaupten, die Macht im Land übernommen zu haben und verhängen das Kriegsrecht. Präsident Recep Tayyip Erdoğan ruft das Volk zum Aufstand gegen die Putschisten auf.

Von Mike Szymanski

Wer nicht zum Fan-Klub von Recep Tayyip Erdoğan gehört - ausweislich der Wahlergebnisse immerhin die Hälfte der Türken -, fragte sich im vergangenen Jahr immer wieder: Wer kann diesen machthungrigen Staatspräsidenten noch stoppen. Er gewinnt Wahlen, wenn es dem Land gut geht, er gewinnt Wahlen, wenn es dem Land schlecht geht. Er gewinnt Wahlen, wenn er es dem Land schlecht gehen lässt.

Erdoğan regiert schon lange nicht mehr, er herrscht.

Am späten Freitag, am Abend eines ohnehin schon traurigen Tages, weil der Terror wieder nach Frankreich gekommen war, kommt man der Antwort auf angsteinflößende Art näher. Die Bosporusbrücke, die im Zentrum der Stadt den europäischen und den asiatischen Teil der Stadt trennt, die wie ungewollt auseinandergerissen wirkt, wird Schauplatz eines Machtkampfes. Sie leuchtet zum Gedenken an die Opfer in Nizza in den Farben Frankreichs. Nun wird sie zum Kampfplatz. Das Militär sperrt die Fahrbahn für Autos aus Richtung Asien, eine martialische Vorstellung. Gepanzerte Militärfahrzeuge stehen quer, schwer bewaffnete Soldaten haben die Brücke eingenommen. In entgegengesetzter Richtung filmen Autofahrer das, was passiert, was sie aber noch nicht verstehen. Zu diesem Zeitpunkt jagen Kampfjets der Streitkräfte tief über Ankara. Auch in der Hauptstadt sind plötzlich überall Soldaten zu sehen. Das hier ist kein Terror, das hier ist ein Putsch. Es ist 22 Uhr Ortszeit. Die Türkei, Nato-Mitglied und Beitrittskandidat der EU, versinkt in dieser Nacht im Chaos.

Der Regierungschef droht den Hintermännern mit härtester Strafe

Schüsse fallen, Panzer rollen. Und dann, der Tag ist noch nicht vorbei, melden die Streitkräfte: "Das Militär hat die Regierung übernommen." So ganz stimmt das noch nicht, denn noch wird um die Macht im Land gerungen. Kurz zuvor hatte der türkische Premier Binali Yıldırım im Fernsehen eingeräumt, Teile des Militärs hätten einen Aufstand gestartet. Man könne nicht von einem Putsch sprechen. Lediglich Teile des Militärs würden einen Aufstand wagen. Die türkische Nation werde aber nicht zulassen, dass sich das Land von der Demokratie abwendet. Wer dies wage, werde hart bestraft. Yıldırım erklärt, die türkische Polizei werde gegen den Putsch vorgehen. Alle Polizisten seien zum Einsatz gerufen worden. Es klingt wie eine Kriegsansage. Und so fühlt es sich auch an, was in diesen Stunden im Land passiert.

In Ankara kommt es zu Schüssen an der Zentrale des Geheimdienstes. Schüsse melden Journalisten auch vom Gebäude des türkischen Generalstabes. Das Militär verkündet das Kriegsrecht und eine Ausgangssperre. Dann jagen Kampfjets auch über Istanbul hinweg. Die Ausgangssperre sei bis auf Weiteres über das Land verhängt, hieß es in der am Freitagabend im Staatssender TRT verlesenen Erklärung des "Rats für den Frieden im Land". Er werde "nicht erlauben, dass die öffentliche Ordnung in der Türkei gestört werde".

Gibt es Verletzte, gibt es Tote? Wer regiert? Wo ist Erdoğan? Er war die vergangenen Tage für seine Verhältnisse abgetaucht. Nicht da - heißt das, aber trotzdem spricht das ganze Land über ihn. So wie seit Monaten schon. "Er ist in Sicherheit", meldet eine Quelle aus dem Präsidentenpalast. Und plötzlich ist er zurück. In einem live übertragenen Telefonanruf beim Sender CNN Türk sagte Erdoğan am Freitagabend: "Ich rufe unser Volk auf, sich auf den Plätzen und am Flughafen zu versammeln. Sollen sie (die Putschisten, Anmerkung d. Red.) mit ihren Panzern und ihren Kanonen machen, was sie wollen." Jetzt raus, in die Nacht? Soldaten haben angeblich das Gouverneursamt in Istanbul besetzt. Wieder ist von Schüssen die Rede. Am Flughafen Atatürk stehen Panzer.

Die private Nachrichtenagentur DHA meldet, Soldaten hätten den Tower am größten Flughafen des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. Der Putsch kommt überraschend. Seitdem die islamisch-konservative AKP im Jahr 2002 in der Türkei an die Macht kam, hatte die von Erdoğan gegründete Partei damit begonnen, den Einfluss des Militärs zurückzudrängen. Das Militär hatte immer Vorbehalte gegen Erdoğan und seine neuen Frommen, die an die Macht strebten. Die Streitkräfte verteidigen das säkulare Fundament des Landes, das Republikgründer Atatürk der Türkei vermacht hat. In der vergleichsweise noch jungen Geschichte des Landes hat das Militär immer wieder die Macht an sich gerissen, wenn die Türkei auseinanderzubrechen drohte. Lange Zeit schien es so, dass Erdoğan den Machtkampf gegen das Militär für sich entschieden hatte. Nachdem seine Regierung an die Macht gekommen war, arbeitet sie gründlich daran, den Einfluss des Militärs zurückzudrängen - teils durch spektakuläre Prozesse mehr auf unsaubere als auf saubere Art. Als Erdoğan noch mit der Türkei in Richtung Europäische Union strebte, nutzte der die Beitrittsverhandlungen sogar als Hebel, die Streitkräfte in ihren Befugnissen zu beschneiden. Vor einigen Wochen sah es sogar noch so aus, als wolle er wieder einen Schritt auf die Armee zugehen, gab ihr Befugnisse zurück. Wie es aussieht, hat Erdoğan sein Militär falsch eingeschätzt. Und wie, wenn man das Dröhnen der Jets hört.

Seit einem Jahr haben die Spannungen im Land stetig zugenommen. Erdoğan strebt nach noch mehr Macht. Per Verfassungsänderung will er mehr Einfluss bei sich im Präsidentenpalast bündeln und die Regierung schwächen.

In einem ersten Schritt hatte er Ahmet Davutoğlu vor wenigen Monaten aus dem Amt des Regierungschefs gedrängt und mit Yıldırım einen treuen Gefolgsmann an der Spitze der Regierung installiert. Dieser hatte keinen Zweifel daran gelassen, Erdoğan zu mehr Macht verhelfen zu wollen. Auch Erdoğan meinte, es gebe jetzt kein Zurück. Das Volk habe sich für ihn entschieden. Alle anderen, die stören, sollen weichen. Oppositionspolitiker werden von einer zunehmend gleichgeschalteten Justiz verfolgt. Die pro-kurdische Partei HDP, die bei den Wahlen im vergangenen Jahr den Einzug ins Parlament schaffte, droht durch Klagen gegen fast alle Abgeordneten, regelrecht zerstört zu werden. Von Presse- und Meinungsfreiheit ist gerade wenig zu spüren. Die Regierung hat das Militär wieder in den Kampf gegen die Terrororganisation PKK geschickt, von dem man mittlerweile weiß, dass er mit Waffengewalt nicht zu lösen ist. Erdoğan hat das Land mehr verändert als Republikgründer Atatürk. Das steht jetzt schon fest. Was aus ihm wird? In dieser Nacht hat die Entscheidung darüber begonnen.

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Quelle:
SZ vom 16.07.2016
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