Süddeutsche Zeitung

Anja Karliczek:Gut gelaunt gegen die Vorwürfe

Man hat sie die Unsichtbare oder Trödelministerin genannt: Die Bildungsministerin muss in der Corona-Krise viel Kritik einstecken. Doch sie zeigt sich unbeeindruckt.

Von Boris Herrmann und Kathrin Zinkant, Berlin

Sie will diese Krise nicht als Geschenk bezeichnen, das wäre natürlich kein angemessenes Wort, Anja Karliczek überlegt jetzt also ein bisschen laut vor sich hin: Dass sich momentan fast alle im Land für virologische Studien interessieren und über den Stand der Erkenntnisse der Forschung diskutieren, habe die Wissenschaft mitten in die Gesellschaft gerückt. Das sei vor zwei Jahren noch undenkbar gewesen. Sie empfindet das als "tolle Verantwortung", wie sie am Montag bei einer Pressekonferenz sagte. Am nächsten Tag, im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung, drückt sie sich so aus: "Das ist ein Pfund, mit dem wir jetzt wuchern können."

Es gibt im politischen Berlin wenig Erstaunlicheres als die Diskrepanz zwischen der unerschütterlichen guten Laune der CDU-Politikerin Karliczek und der Dauerkritik an ihrer Arbeit als Bildungs- und Forschungsministerin. Man hat sie "die Unsichtbare" genannt, "die Unterfliegerin" und immer wieder: "die Trödelministerin". Die zuletzt recht staatstragend auftretenden Oppositionsparteien scheinen in ihr ein Ventil gefunden zu haben, um endlich einmal wieder den krisenbedingt unterdrückten Beißreflex auszuleben. Die Grünen unterstellten ihr "Trägheit", die Linken "Selbstinszenierung", aber auch vom Koalitionspartner SPD kommt massive Kritik, von "Wortbruch" war die Rede. Und selbst die Junge Union setzte gemeinsam mit den Jugendorganisationen anderer Parteien einen offenen Brief auf, in dem Karliczek aufgefordert wurde, mehr für Studierende und Azubis zu tun.

Teile der Öffentlichkeit hätten sich offenbar auf sie eingeschossen, sagt eine Kollegin aus der Unionsfraktion. Ähnlich wie der frühere Gesundheitsminister Philipp Rösler von der FDP könne Karliczek machen, was sie wolle, sie bekomme immer Gegenwind. "Hut ab, wie sie das alles wegsteckt", staunt die Kollegin.

Über Anja Karliczek, 49, die gelernte Hotelfachfrau aus dem Teutoburger Wald, wurde geschrieben, sie besitze die Gabe, mit dem ganzen Gesicht zu strahlen. Das ist fast noch untertrieben. Im fünften Stock ihres Ministeriums scheint an diesem Dienstagmorgen das ganze Büro mit der Ministerin mitzustrahlen. Ein großer und drei kleine Blumensträuße tragen ihren Teil dazu bei. Karliczek öffnet das Fenster mit Panoramablick auf das Regierungsviertel und den Spreebogen. Einerseits natürlich, damit die Aerosole entweichen können. Andererseits lauscht sie manchmal gerne, was über die Lautsprecher der allmählich wieder vorbeischippernden Ausflugsschiffe über sie gesagt wird. Soweit, dass dort die Passage des Trödelministeriums angekündigt würde, ist es noch nicht.

Man kann wohl sagen, dass Karliczek mit sich im Reinen ist. Trotz allem. Sie hat da ein paar Zettel mit Daten parat, die ihre Rolle in der Corona-Krise zurechtrücken sollen. Fast die Hälfte der im jüngsten Konjunktur- und Zukunftspaket beschlossenen Mittel, nämlich 60 Milliarden, fließe in die Zukunftsbereiche Bildung, Forschung und Innovation. Dazu zählt die Ministerin unter anderem: Investitionen in die Impfstoffentwicklung, die künstliche Intelligenz, die Quantentechnologie, die Nationale Wasserstoffstrategie, die Digitalisierung des Lernens, den Ausbau von Ganztagsschulen. Der Aufbau neuer Strukturen sei nun einmal teuer. "Aber es ist an sehr vielen Stellen mein Paket", sagt Karliczek.

Sie musste lernen, dass ihre Macht Grenzen hat

Man braucht wohl keine repräsentative Langzeitstudie unter Kabinettsmitgliedern durchführen, um zu erahnen, dass es auch Ressortchefs gibt, die das anders sehen. Karliczek wird allenthalben als angenehme Gesprächspartnerin beschrieben, aber da schwingt eben auch oft ein Aber mit, und dann fallen Begriffe wie unerfahren, ungeschickt und inhaltlich stur.

Gerade als Bildungsministerin steckt Karliczek in dem Dilemma, dass sie auch Prügel für Dinge abbekommt, auf die sie wegen der föderalen Struktur nur bedingt Einfluss hat. Das zeigte sich auch in der berüchtigten Ministerpräsidentenkonferenz Mitte März, als auf virologischen Rat die Schulen geschlossen wurden. Karliczek erinnert sich: "Ich habe damals in der Runde dafür geworben, vielleicht am Wochenende noch einmal über die Lage nachzudenken und einen Kriterienkatalog zu entwickeln. Aber da gab es eine Gruppendynamik, die nicht mehr aufzuhalten war."

Ab in die Schule

"Jeder Tag Bildung zählt" - mit diesem Satz hat NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP) am Mittwoch ihre Entscheidung verteidigt, seit Montag wieder 640 000 Grundschüler zurück auf die Schulbänke zu beordern. Gewerkschaften und Elternverbände hatten die Öffnung als "übereilt" kritisiert. Zwei Wochen vor Beginn der Sommerferien gefährde dies unnötig die Gesundheit von Lehrern und Familien. Tatsächlich musste eine Grundschule in Wuppertal bereits am Dienstag wieder schließen, nachdem ein Schüler positiv auf Corona getestet worden war. 350 Kinder und Mitarbeiter stehen dort nun unter Quarantäne. SPD und Grüne warfen der Ministerin vor, sie agiere "konzeptionslos". Laut einer WDR-Umfrage lehnen 52 Prozent der NRW-Bürger die Öffnung der Grundschulen ab. cwe

Das soll nicht heißen, dass sie den Lockdown rückblickend für falsch hält, im Zweifel für den Zweifel und die Vorsicht, so sieht sie das. Aber sie musste eben auch lernen, dass ihre Macht Grenzen hat, obwohl sie ein finanziell gut ausgestattetes Haus leitet. "Wenn ich zum Beispiel etwas für die Schulen oder Hochschulen tun will, muss ich immer 16 Bundesländer an Bord kriegen. Wenn dann 15 dabei sind und eines nicht, dann kann ich mir hier noch so viel wünschen zu helfen und dennoch komme ich nicht weiter", sagt Karliczek. Im Übrigen hat sie auch im Lauf der Pandemie-Krise wieder festgestellt: "Der Wettbewerb der 16 Bundesländer um die Zufriedenheit der Bevölkerung funktioniert."

Kampf zwischen zwei Welten

Dabei wurden die Schulschließungen alles in allem noch klaglos hingenommen, beim Versuch, sie wieder aufzumachen, gibt es mehr Ärger. Und mittendrin kämpft die Ministerin mit ihrer Gratwanderung zwischen zwei Welten, die derzeit recht gegensätzliche Interessen verfolgen: auf der einen Seite die Wissenschaft, die noch immer versucht, das Virus zu verstehen. Dabei werden in der Krise zunehmend Einzelergebnisse publiziert, die stets mit Vorsicht zu betrachten sind. Zum Teil kommen Resultate ohne den üblichen Begutachtungsprozess zur Vorveröffentlichung, gelegentlich sogar Zwischenergebnisse ohne zugehörige Dokumentation. Dass das nicht dem Ziel von Wissenschaft entspricht, sollte auch eine Forschungsministerin wissen. Doch die Politik strebt nach schnellen Entscheidungen, in der Corona-Pandemie gehört dazu oft eine wissenschaftliche Begründung, so vorläufig sie auch sein mag. Als Bildungsministerin steht Karliczek auf der anderen Seite deshalb unter immensem Druck. Die Länder wollen und werden den Schulbetrieb teilweise vor dem Sommer auf Normalniveau hochfahren, Baden-Württemberg hat das als eines der am stärksten betroffenen Ländern vor drei Wochen für die Grundschulen angekündigt, begründet mit vorläufigen Studienergebnissen. Karliczek bleibt nur, diese Alleingänge abzunicken - und macht dabei nicht immer eine gute Figur.

Zuletzt wurde sie vor allem für ihre "Kleckerhilfen" für Studierende kritisiert, die krisenbedingt ihren Nebenjob verloren haben. Die Kultusminister der Länder und die SPD wollten den Betroffenen den Zugang zum Bafög ermöglichen. Dagegen sperrte sich Karliczek. Nach zähem Ringen einigte sich die Koalition Ende April auf einen Kompromiss, dann passierte wieder lange nichts, bis die Ministerin in dieser Woche den Start eines 100-Millionen-Euro-Nothilfeprogramms verkündete. Mit der Auszahlung ist aber nicht vor Juli zu rechnen, und den vollen Zuschuss von 500 Euro erhalten ohnehin nur Studierende, die weniger als 100 Euro auf dem Konto haben. "Blanker Hohn", schimpfen Kritiker. Karliczek, die eben noch mit den ganz großen Milliardensummen hantiert hat, sagt dazu: "Wir reden jetzt immer über die ganz großen Milliardensummen. Aber auch 100 Millionen Euro sind richtig viel Geld."

Für Samstag haben Studierende zu einer Demonstration in Berlin gegen "den Totalausfall" Karliczek aufgerufen. Die Ministerin bleibt demonstrativ gut gelaunt und sagt: "Für ein gutes Argument bin ich immer zugänglich."

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SZ vom 18.06.2020/pak
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