Terrorismus:Rekordverdächtige Salamitaktik im Fall Amri

BND Opens New Headquarters In Berlin

Die Zentrale des Bundesnachrichtendienstes hat seit Februar 2019 ihren Sitz in Berlin.

(Foto: Getty Images)

Der BND besitzt ein bislang unbekanntes Amri-Video. Erfahren hat man das erst jetzt. Es schadet, wenn Sicherheitsbehörden sich derart der Aufklärung entziehen.

Kommentar von Ronen Steinke, Berlin

Von einer Salamitaktik spricht man, wenn Behörden mit einer unangenehmen Wahrheit nur scheibchenweise herausrücken. So wie bei der italienischen Wurst, von der man stets nur ein Millimeter breites Stück abschneidet.

Unangenehme Wahrheiten gibt es einige im Fall des Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt. Hätten Behörden den Attentäter Anis Amri aus dem Verkehr ziehen können? Die Frage ist gleich nach der Tat gestellt worden. Immerhin war der Mann als Drogendealer aufgefallen. Die verdruckste Antwort lautete: Tja, schwierig. Wenn man es genau nimmt, dann Ja, so hat die Öffentlichkeit erst mit einigen Wochen Verspätung von den Berliner Behörden erfahren.

Oder diese Frage: Gab es V-Leute des Verfassungsschutzes in der Umgebung von Anis Amri, in seiner Moschee? Schwer zu sagen, hieß es zunächst. Definitionssache. Geheim. Alles relativ. Aber letztlich, nun gut: Ja. Das hat die Öffentlichkeit sogar erst mit zwei Jahren Verzögerung von den Verfassungsschützern erfahren. Ein hauchzartes Scheibchen hier, ein Millimeter breites Stückchen da: Die Behörden rücken gerade so viel heraus, wie sie müssen.

Erst jetzt kann man Fragen stellen, die man stellen muss

Man geizt mit der Wahrheit. Auch in diesem, so ernsten Fall. Selbst jetzt ist das noch so, fast drei Jahre nach dem Anschlag, bei dem zwölf Menschen getötet und viele weitere teils schwer verwundet wurden. Der deutsche Auslandsgeheimdienst BND besitzt schon seit mindestens Frühjahr 2017 ein Video, das Anis Amri mehrere Wochen vor seiner Tat aufgenommen hatte und auf dem er im Namen Allahs Drohungen ausstößt. Erfahren hat man das erst jetzt.

Das heißt: Erst jetzt, fast drei Jahre nach dem Anschlag, erfahren die Abgeordneten in den bundesweit drei Amri-Untersuchungsausschüssen von der Existenz dieses Videos. Erst jetzt können sie Fragen stellen, die man sich stellen muss. Wie nahm der Attentäter dieses Video auf, wenn dieses Video nicht unter den vielen Tausend Dateien war, die auf seinen zwei Handys geborgen wurden? Hatte er ein weiteres Handy? Hatte er weitere Helfer?

Schön und gut, wenn die Ermittler diesen Fragen bereits still und leise für sich nachgegangen sind. Schön und gut, wenn sie gar aus ihrer Sicht befriedigende Antworten gefunden haben sollten. Das genügt nicht. Die Sicherheitsbehörden dienen der Gesellschaft. Die Gesellschaft hat einen Anspruch zu erfahren, ob ihr gut gedient wird. Wann die Sicherheitsbehörden Rechenschaft abzulegen haben, darüber entscheiden nicht die Sicherheitsbehörden selbst.

Diese Salami scheint kein Ende zu kennen

Gibt es eine große Verschwörung, die sie hier vertuschen wollen? Unsinn. Dafür spricht nichts. Die bisherigen, großen Bemühungen der Amri-Aufklärer in den Parlamenten haben ein anderes Bild gezeichnet. Ja, es gab Fehler bei den Behörden. Mal wusste die linke Hand nicht, was die rechte tat. Mal war es umgekehrt. Es gab Reibungsverluste im Föderalismus, es gab Eifersüchteleien unter den Behörden, schlimme Sparzwänge. Es gibt aber keinen Hinweis darauf, dass Behörden jemals mutwillig die Augen verschlossen hätten vor der Gefahr eines islamistisch motivierten Anschlags. Im Gegenteil.

Es schadet dem Vertrauen in die Sicherheitsbehörden, wenn sie dennoch den Eindruck erwecken, sie seien sich selbst genug. Ein Geheimdienst wie der BND muss nicht alles offenlegen. Wenn ein ausländischer Geheimdienst ihm das Amri-Video nur unter der Bedingung überlassen hat, dieses Video nicht herauszugeben, dann ist das ein Argument. Aber dass der BND zumindest Bescheid gibt, dass er ein solches Video hat: Das muss man sehr wohl verlangen. Er hätte sich 2017 zu Wort melden müssen.

Es schadet, wenn Sicherheitsbehörden sich derart der Aufklärung entziehen. Es schadet, wenn jetzt wieder neue Fragen im Fall Amri auftauchen, denen wieder mühsam nachgegangen werden muss. Wieder scheibchenweise. Diese Salami, um im Bild zu bleiben, ist außergewöhnlich; sie scheint kein Ende zu kennen. Sie ist allmählich ein Fall für das Guinness-Buch der Rekorde.

Es schadet, wenn mittlerweile der Eindruck entsteht, dass den Sicherheitsbehörden das wachsende Unverständnis der Öffentlichkeit trotzdem Wurst ist.

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Jüngst wurde bekannt, dass der BND seit mindestens 2017 ein Drohvideo des Terroristen Anis Amri besitzt. Für Ronen Steinke schadet diese Salamitaktik dem Vertrauen in die Sicherheitsbehörden.

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