Angst vor sozialen Unruhen in Deutschland:Champagner im Blut

Warum die Menschen in Frankreich und Italien viel schneller auf die Straße gehen - und warum das auf die Politik der Regierungen dort kaum Einfluss hat.

Thomas Kirchner

Es sind Nachrichten und Bilder, die viele Deutsche sich nicht erklären können: Warum entführen Franzosen ihre Chefs, explodiert Rassenhass in England, eskaliert der Konflikt mit der Polizei in Athen, und warum lassen sich Millionen Italiener wie auf Knopfdruck zu Demonstrationen und Streiks mobilisieren? Soziologen und Arbeitsmarktexperten haben eine Vielzahl von Gründen dafür zusammengetragen, dass die Menschen in anderen europäischen Ländern schneller auf die Barrikaden gehen als in Deutschland.

Man könnte mit dem berühmten "Schuss Champagner im Blut" beginnen, den Bismarck bei den Deutschen vermisste. Die Franzosen hingegen (und die Italiener, Spanier, Griechen) haben wohl doch ein anderes Temperament, das sich schneller in Protesten entlädt. Auch verlaufen Streiks und Demonstrationen in Frankreich oder Spanien weit weniger zielorientiert als in Deutschland. Oft zeigt man sich lediglich solidarisch mit einer Gruppe, ohne ein konkretes Ergebnis einzufordern. Zudem sind politische Streiks in vielen Ländern auch nicht tabu, Arbeitskämpfe nicht ausschließlich auf Tarifverträge ausgerichtet. In Deutschland riskiert jede Gewerkschaft, die dieses Trennungsgebot missachtet, Schadenersatzzahlungen.

Auch wenn die deutschen Gewerkschaften über Mitglieder-Schwund klagen, ist der Organisationsgrad hierzulande mit 25 Prozent noch vergleichsweise hoch. In Frankreich ist er von einst 38 auf acht bis zehn geschrumpft, in Spanien sind es zehn bis zwölf Prozent der Arbeitnehmer. Es gibt keine Friedenspflicht in Frankreich, und das Streikrecht ist ein sogenanntes "individuelles Recht".

So lässt sich Unzufriedenheit schwieriger kanalisieren, es bleibt viel Raum für spontane Konflikte, die oft gar nicht im Sinne der Gewerkschaften sind, etwa die erwähnten Geiselnahmen von Managern. Das Auf-die-Straße-Gehen ist mehr oder weniger Teil des französischen Nationalcharakters. Zu dieser tief verankerten Protest- und Revolutionskultur kommen die aktuellen Probleme mit Armen und Migranten in den Vorstädten. "Wenn es wegen der Wirtschaftskrise demnächst irgendwo in Europa hochgeht, dann wohl am ehesten in Frankreich", vermutet der Hamburger Arbeitsrechtler Ulrich Zachert.

Auslöser der meisten sozialen Unruhen sind Arbeitskämpfe. Was deren Häufigkeit betrifft, liegt Italien weit vorn in der Welt. Zwischen den Jahren 1969 und 2001 kam es dort zu knapp 3500 Arbeitskämpfen (in Deutschland zu einigen Dutzend). Es gibt dort ebenfalls keine Friedenspflicht, aber eine lange Tradition des breiten und lautstarken öffentlichen Widerstands. Allein in den vergangenen Monaten fanden mehrere Großkampftage gegen die Politik von Premierminister Silvio Berlusconi statt, bei denen jeweils Hunderttausende auf die Straße gingen, nach Veranstalterangaben sogar Millionen. Und die Organisation war perfekt: Mit Sonderzügen wurden die Menschen zu den Demonstrationen gebracht

In Deutschland würde eine solche Zusammenballung regierungskritischer Bürger die Republik erzittern lassen. In Italien ist das ein völlig normaler Vorgang, der auch die chronische Unzufriedenheit der Bürger mit ihren Parteien und Politikern zum Ausdruck bringt. Auf die reale Politik hat er aber kaum eine Auswirkung. Derzeit dominiert Berlusconi, vor allem nach dem Erdbeben in den Abruzzen, die politische Bühne ohnehin in einem Ausmaß, das jeglichen Widerstand erdrückt.

In Großbritannien ist die Konfliktbereitschaft der Bürger in den vergangenen Jahren stark gesunken, nicht zuletzt durch die Schwäche der Gewerkschaften. Wenn es zu Krawallen kommt, können sie allerdings blutig werden, wie im Jahr 1981, als schwarze Einwanderer im Londoner Stadtteil Brixton rebellierten. Auch in Griechenland gibt es eine enorme latente Gewaltbereitschaft, die vom Staatshass und der Unzufriedenheit der jungen, chancenlosen Generation geschürt wird. Ein Funke schon genügt, - wie im vergangenen Dezember die Schüsse der Polizei auf einen Jugendlichen - , und die Barrikaden brennen wieder.

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