Am Anfang steht immer die Frage, wen man eliminieren soll. Wer stellt eine so große, so unmittelbare Gefahr für Amerika dar, dass nur sein Tod als Lösung infrage kommt? Die Vorschläge kommen von US-Geheimdienstlern - unter anderem aus Stuttgart, das zeigen detaillierte Stellenbeschreibungen des Africom. Darin sucht das Militär zum Beispiel einen "All Source Analyst", einen Spezialisten, zu dessen Aufgaben es ausdrücklich gehört, "Ziele zu nominieren". Dieser Schritt ist der Beginn eines "Nominierungsprozesses", der erst auf dem Schreibtisch von US-Präsident Barack Obama abgeschlossen wird. Jeden Dienstag werden dem Präsidenten die Vorschläge vorgelegt, in diesem Fall vom Africom und der Special-Operations-Abteilung. Sobald Obama das Hinrichtungsdokument unterschreibt, ist die Zielperson zum Abschuss freigegeben.
In jenen Februartagen 2012 steht auf der "Kill-Liste" unter anderem der mutmaßliche Dschihadist Mohamed Sakr. Er soll seit 2009 eine wichtige Rolle in der afrikanischen Terrorgruppe al-Shabaab innehaben. Nur: Sakr wurde 1985 in England geboren, er ist britischer Staatsbürger. Selbst der Präsident der Vereinigten Staaten, der mächtigste Mann der Welt, kann nicht einfach so einen Briten töten. Oder doch?
Er muss gar nicht. Großbritannien entzieht Sakr im September 2010 die britische Staatsbürgerschaft. Damit ist er vogelfrei.
Nur: Wen man töten will, muss man erst finden. Der US-Geheimdienst jagt Sakr nun schon seit Jahren. Aber jetzt sind ihm die Verfolger endlich nah gekommen. Sie stehen kurz davor, ihn zu erwischen.
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Maxamed Abdullahi zählt mit seinen 50 Jahren zu den Älteren seines Clans. Er ist ein hochangesehener Mann: Zu ihm kommen die Leute, wenn es Streit gibt - um das beste Gras oder um Wasser, die essenziellen Dinge des Nomadenlebens. Er sagt, wer recht hat und wer nachgeben muss, und sein Schiedsspruch hat Geltung. Ein anderes Gesetz gibt es nicht hier im Busch.
An diesem Tag muss er weit gehen, bis er frisches Gras für seine Kamele findet, fast eine Stunde. Maxamed Abdullahi ist ein großer, sehniger Mann mit kurzen Haaren und schmalem Kinnbart. Er trägt das lange Gewand der Nomaden und billige schwarze Sandalen "made in China". Vor der Sonne schützt er sich mit einem Turban oder Hut, beim Kamelhüten wickelt er sich meist einfach sein Bettzeug um den Kopf. Dann hat er gleich etwas dabei, um sich zum Mittagsschlaf hinzulegen.
Rund tausend Kilometer von Maxamed Abdullahi und seinen Kamelen wird im "Camp Lemonnier", einem abgetrennten und streng bewachten Teil des Flughafens von Dschibuti, eine bewaffnete Drohne für den Einsatz vorbereitet. Von hier starten zu dieser Zeit die meisten Drohnen, die das US-Afrika-Kommando in Stuttgart für seine Einsätze braucht. Auf den ersten Blick ist das "Camp Lemonnier" eine eher ungeordnete Ansammlung von Baracken, Hangars, Tanklastern, Helikoptern und Flugzeugen. Mittendrin weht eine amerikanische Flagge. Hier arbeiten in jenen Februartagen auch die zivilen Mitarbeiter der Firma Battle Space Flight Services, die im Auftrag des US-Militärs Drohnen wartet und betreibt. Ein rentables Geschäft: Zuletzt bekam die Firma von der Air Force einen Auftrag in Höhe von gut 950 Millionen Dollar.
Es ist früh am Morgen in Dschibuti, als die Techniker die Drohne vom Typ Predator aufs Rollfeld bringen: acht Meter lang, 15 Meter Flügelspannweite, mit den Hellfire-Raketen unter den Flügeln eine Tonne schwer. Rund 25 Stunden kann sie in der Luft bleiben. Der Start verläuft problemlos, und um 6.30 Uhr westeuropäischer Zeit übernimmt ein US-Pilotenteam auf der Cannon Air Force Base im Bundesstaat New Mexico das Steuer.
Die eigentliche Mission beginnt.
Live zugeschaltet: der AOC-Kampfeinsatzraum in Ramstein. Hier wird auf der Data Wall, einem riesengroßen LCD-Bildschirm, jedes einzelne Flugzeug und jede US-Drohne angezeigt, die in Afrika in die Luft gehen. Nahezu in Echtzeit gehen auch die Bilder der Bordkameras ein - zur sofortigen Auswertung durch die Analysten. Über einen verschlüsselten Internet-Chat ist das Militär in Ramstein mit anderen Beteiligten verbunden, wie dem Startteam in Dschibuti, dem Kommando in Stuttgart und denen, die am Ende der Befehlskette in einem klimatisierten Container in New Mexico sitzen: den Piloten.
In diesem Fall liegt der Joystick in der Hand einer Frau, einer US-Soldatin vom Rang eines Captain. Sie ist eine erfahrene Pilotin und hat sogar exakt diese Drohne schon zweimal geflogen. Im Normalfall besteht eine Crew aus sechs Leuten: Der Pilot fliegt - und betätigt am Ende den Feuer-Knopf. Der "Sensor Operator" ist eine Art Co-Pilot, der die Bordkameras bedient und möglicherweise Bilder sichtet, die zeitgleich von anderen Drohnen kommen. Der "Mission Coordinator" hält Kontakt zu den beteiligten Einheiten und Geheimdiensten - also auch nach Deutschland. Und für jede Position gibt es einen Ersatzmann. Anstrengende Jobs: Die Crews arbeiten in Schichten von elfeinhalb Stunden, und in den Containern ist es eng, es sind zu viele Leute auf zu wenig Raum. Vor allem zu viele Männer. Es stinkt nach Schweiß, nach Zigaretten und nach Fürzen.
Die Crew der Pilotin beobachtet an diesem Tag ein "bewegliches Zielobjekt" - das bedeutet: Es geht um Menschen.
Um acht Uhr westeuropäischer Zeit, elf Uhr somalischer Zeit, fliegt die Drohne stabil in 5,5 Kilometer Höhe. Die Waffen an Bord sind einsatzfähig, die Ziellaser kalibriert. Alles bereit für den Abschuss.
Das Ziel: Mohamed Sakr. Er soll sich in der Nähe von Mogadischu aufhalten.
Die Gegend, in der Maxamed Abdullahi schließlich Gras für seine Kamele findet, liegt in der Region Unter-Shabeelle - benannt nach dem Shabeelle-Fluss. Der Indische Ozean ist nah, die Hauptstadt Mogadischu 60 Kilometer entfernt. Früher galt die Region als Brotkorb des Landes, aber bewaffnete Konflikte und wiederkehrende Dürren haben Spuren hinterlassen, und vor allem: Hunger. Seit 2008 ist die Region weitgehend in der Hand der islamistischen Al-Shabaab-Milizen, die am Horn von Afrika einen Gottesstaat errichten wollen.
Maxamed Abdullahi will mit den Dschihadisten nichts zu tun haben. Er ist ein gläubiger Muslim, das schon, und er hat als einer der wenigen hier sogar die Koranschule besucht - aber der Eifer und die Wut dieser Menschen sind ihm fremd. Außerdem stehen immer wieder Al-Shabaab-Kämpfer vor seiner Hütte und verlangen Tribut: Ziegen und Kamele. Als hätten er und seine Familie nicht schon ohnehin mit dem Überleben zu kämpfen. Aber die Islamisten haben Waffen. Sie gehen nie ohne Tribut.
Salman Abdullahi
(Foto: Niklas Schenck)Am späten Vormittag macht Abdullahi sich seine erste Mahlzeit zurecht, Hirsebrei mit frischer Kamelmilch. Nach dem Essen legt er sich meist in den Schatten eines Baums, um zu schlafen. An das seltsam tief brummende Geräusch der Drohnen, die irgendwo dort oben vorbeiziehen, hat er sich längst gewöhnt. Es ist Alltag in Somalia.
Einer, den es zu dieser Zeit schon getroffen hat, ist Bilal Berjawi, ein Freund jenes Mohamed Sakr, dem die US-Kräfte gerade auf der Spur sind. Berjawi und Sakr kannten sich, seit sie zwölf waren. Beide wachsen in London auf, als Freunde, einer mit libanesischen, der andere mit ägyptischen Eltern. Sie wenden sich gleichzeitig dem radikalen Islam zu, heiraten beide somalische Frauen und verlassen 2009 beide London - um in Somalia bei der al-Shabaab zu kämpfen. Ende Januar bringt Berjawis Frau in einem Londoner Krankenhaus sein Kind zur Welt, und begeht den Fehler, ihren Mann anzurufen. Bilal Berjawi geht ans Telefon. Wenige Stunden später ist er tot, getötet von einer US-Drohne.
In den Wochen danach arbeitet man im Stuttgarter Afrika-Kommando daran, auch Mohamed Sakr zum Märtyrer zu machen.
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Aber wie kommt man auf die Spur eines Mannes, der irgendwo in Somalia untergetaucht ist? Über abgefangene Mails oder Telefonate, wie bei dem Londoner Dschihadisten Bilal Berjawi, über Agenten vor Ort oder über Partner wie den Bundesnachrichtendienst. BND-Agenten tauchen regelmäßig in deutschen Asylbewerberheimen auf, wo sie beispielsweise geflohene Somalier über die Lage in ihrem Heimatstaat befragen. Vielleicht erzählt jemand ja von zwei Gotteskriegern, die gerade aus London in Somalia angekommen waren?
Was auch immer die BND-Leute erfahren, geben sie routinemäßig weiter an ihre amerikanischen Kollegen. Sofern nicht sowieso ein US-Agent mit im Raum sitzt, auch das passiert. Und jedes noch so kleine Detail kann für die Zielfindung der Amerikaner, das "Targeting", entscheidend sein, jeder noch so kleine Hinweis aus Deutschland kann das Puzzle der Analysten vervollständigen und den Feuerbefehl auslösen - der bei Afrika-Einsätzen aus Deutschland erfolgt, aus dem Africom-Hauptquartier in Stuttgart-Möhringen.
Man kann sich zwischendurch auch mal fragen, warum das eigentlich so ist? Warum liegt das Hauptquartier für den US-Afrika-Einsatz in Deutschland, und nicht, nur zum Beispiel, in Afrika?