Angriff in Supermarkt:Hamburger Messerstecher - die vielen Fragen im Fall Ahmad A.

Hamburg Knife Attack Perpetrator Had Islamist Connection

Blumen in Gedenken an die Opfer des Hamburger Messerstechers - und Dank an diejenigen, die den Täter überwältigten.

(Foto: Getty Images)
  • Nach dem Attentat mit einem Toten und fünf Verletzten in einem Supermarkt ergibt sich ein zwiespältiges Bild.
  • Einerseits standen die Behörden in engem Kontakt mit Ahmad A., der nun in Untersuchungshaft behauptet, er sei Terrorist.
  • Andererseits empfahl der Verfassungsschutz, der angeblich labile Palästinenser solle von Psychologen betreut werden - das unterblieb.

Von Georg Mascolo und Ronen Steinke

Am 3. November des vergangenen Jahres hatte Ahmad A. einen Termin bei der Ausländerbehörde in Hamburg. Der Palästinenser ist hier Stammkunde, sein Asylantrag hat praktisch keine Chancen. Er wird, das zeichnet sich bereits ab, einer derjenigen sein, die man zurück in seine Heimat schicken will. Die Palästinensische Autonomiebehörde muss dafür sogenannte Pass-Ersatzpapiere ausstellen.

Ahmad A. ist im Amt beliebt, er gilt als freundlich und verbindlich. Er verschleiert seine Identität nicht, wie manch andere Flüchtlinge es tun, um ihre Abschiebung zu verhindern. Er gibt sich kooperationsbereit: Er wolle schnell nach Gaza zurück, das Haus seiner Familie sei zerstört worden, es fehle an Baumaterial. Nun müsse er beim Wiederaufbau helfen. Sein Vater warte.

An diesem Tag aber geht es nicht um Asyl oder Rückkehr. Der Hamburger Verfassungsschutz wartet schon auf ihn. Die Behörde ist von der Polizei informiert worden, dass Ahmad A. sich auffällig verhalte, Religion spiele plötzlich eine große Rolle in seinem Leben, er zitiere Koranverse, trinke keinen Alkohol mehr und ziehe sich zurück. Ein Hinweisgeber hat das der Polizei am Hauptbahnhof geschildert, und auch wenn es Probleme mit Namen und Schreibweisen gibt, ist nach einiger Zeit klar, dass Ahmad A. gemeint ist.

In den Akten wird A. seither als "Verdachtsfall Islamismus" geführt

Solche Wesensveränderungen sind manchmal die ersten Anzeichen einer Radikalisierung; andererseits ist religiös zu werden nichts Verwerfliches. Noch kaum etwas deutet daraufhin, dass derselbe Ahmad A. nun Monate später - am vergangenen Freitag - in einem Supermarkt in Hamburg-Barmbek einen Menschen erstechen und fünf weitere teils schwer verletzen würde. Doch in den Akten wird A. seither als "Verdachtsfall Islamismus" geführt.

Das Gespräch in der Ausländerbehörde am 3. November findet auf Englisch und Schwedisch statt, in Sprachen, die A. auf seiner langen Odyssee durch verschiedene Länder gelernt hat. Ägypten, Norwegen, Schweden, Spanien sind die Stationen dieser Wanderjahre. Der Schwedisch beherrschende Verfassungsschützer will wissen, warum sich Ahmad A. verändere, was mit ihm los sei. A. weint, er legt die Hand aufs Herz. Ja, Religion spiele eine große Rolle in seinem Leben, aber nein, er tue nichts Böses. Er wirkt verwirrt und wenig stabil. Er erzählt noch, dass er der palästinensischen Fatah nahestehe und sich frage, ob es Probleme mit der konkurrierenden Hamas gebe, wenn er nach Gaza heimkehre.

Nach dem Gespräch kehrt A. zurück in seine Unterkunft, eine Container-Siedlung im Hamburger Randbezirk Langenhorn, Haus 4, zweiter Stock, Zimmer 429. Von dort erreichen die Polizei weitere Hinweise, er bete laut auf dem Flur. In einem Café für Flüchtlinge taucht er in traditioneller Kleidung auf. Kurz, die Akte füllt sich.

Ahmad A. ist nun einer von vielen sogenannten Verdachtsfällen Islamismus, seit Jahren steigt die Zahl. Polizei und Verfassungsschutz müssen herausfinden, wer nur große Töne spuckt, wer tatsächlich gefährlich werden könnte. Und inzwischen auch: bei wem eine psychische Erkrankung eine Tat begünstigen könnte.

Ahmad A. gilt nicht als unmittelbare Bedrohung. Die Suche in sozialen Netzwerken hat keinen Facebook-Account zu Tage gefördert, auf dem sich radikales Gedankengut findet. Es gibt keine Hinweise darauf, dass er in die Salafistenszene eingebunden ist. A. mag islamistischen Ideen nachhängen, aber ist nach jeder Definition kein "Gefährder", der sich gewaltbereit zeigt. Aber etwas stimmt nicht mit ihm. Einen "Schwellentyp" nennt ihn ein Hamburger Staatsschützer. Was soll man tun?

Empfehlung für den Sozialpsychiatrischen Dienst

Im Januar 2017 übersendet der Hamburger Verfassungsschutz einen Vermerk zurück an die Polizei. Man habe es bei Ahmad A. vermutlich eher mit einer psychisch labilen Person zu tun als mit einem überzeugten Islamisten. Man empfehle, ihn zur Begutachtung dem Sozialpsychiatrischen Dienst vorzustellen.

Aber das geschieht offenbar nie.

Das ganze Wochenende über mühten sich die Hamburger Behörden herauszufinden, was geschah - und was unterlassen wurde. Der für A. zuständige Sachbearbeiter des Staatsschutzes der Polizei arbeitet inzwischen in Berlin, in den Akten findet sich kein Hinweis darauf, dass die Begutachtung A.s je stattgefunden hat. Bei der Hamburger Polizei gab es nach bisherigen Feststellungen auch die Idee, eine sogenannte Fallkonferenz einzuberufen, Psychiater und auch Präventionsexperten hätten dann mit am Tisch gesessen. Aber offenbar fand auch das nicht statt.

Das Flüchtlingsheim, in dem A. seit zehn Monaten lebte, ist berüchtigt. Im Juni musste die Polizei dort wegen einer Massenschlägerei anrücken. Einmal wurde eine Dusche in Brand gesetzt, Autos von Anwohnern wurden demoliert oder angezündet, am U-Bahnhof gegenüber explodierte im Juni ein Sprengsatz, der Teile der Deckenverkleidung zerstörte.

Der Fall ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich

Noch wird behördenintern aufgeklärt, aber manches spricht dafür, dass im Fall Ahmad A. zunächst vieles gut funktionierte - frühe Hinweise aus dem sozialen Umfeld, früher Kontakt mit dem Verfassungsschutz - und die Sache dann liegen blieb. Auch deshalb sprach Innensenator Andy Grote (SPD) offenbar bereits davon, man müsse klären, ob alles Notwendige geschehen sei. Dazu gehört auch, ob alles schnell genug geschehen ist. Der erste Hinweis auf Ahmad A. ging nach SZ-Informationen am 1. April 2016 bei der Hamburger Polizei ein. Erst am 29. August wurde er an den Verfassungsschutz weitergereicht.

Der Fall ist nach den bisherigen Feststellungen in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich. Der Täter brachte keine Waffe mit, sondern nahm das Messer von einem Tchibo-Stand im Edeka-Markt. Anders als bei früheren Einzeltätern gibt es bisher keinen Hinweis darauf, dass er über Messenger-Dienste von Hintermännern angeleitet wurde. Auch hat keine islamistische Gruppe seine Tat für sich reklamiert. In einzelnen Fällen - etwa beim Anschlag auf ein Stadtfest in Ansbach im Juli 2016 - scheint die drohende Abschiebung einen Tatentschluss befördert zu haben. Aber Ahmad A. kooperierte, fuhr im März freiwillig zur palästinensischen Vertretung nach Berlin und später noch ein zweites Mal, weil es Nachfragen gab.

Noch am Morgen der Tat ist er im Ausländeramt und erkundigt sich, ob die Ersatzpapiere bereits da seien, wirkt ruhig und unaufgeregt. Die Sache lief und galt in der Behörde als so gut wie erledigt: Die palästinensischen Diplomaten, langsam, aber hilfsbereit, signalisierten, Papiere würden kommen. Ahmad A. erklärte sogar noch, er könne sonst auch den Vater in Gaza noch einmal anrufen und fragen, ob der alte Pass noch da sei. Da kennen sie in Hamburg und andernorts ganz andere Fälle.

Er lege Wert darauf, "Terrorist" zu sein

Was war der Auslöser, der denselben Mann nach diesem Besuch bei der Behörde und einem kurzen Einkauf bei Edeka so plötzlich aus dem Bus aussteigen und noch einmal in den Markt zurückgehen ließ, um dort ein Messer aus der Verpackung zu reißen? Ahmad A. sitzt jetzt in Untersuchungshaft. Zunächst hatte er sich dort zu einer Aussage bereiterklärt. Nach SZ-Informationen hatte er gesagt: Er lege Wert darauf, "Terrorist" zu sein. Dann aber schwieg Ahmad A. Er habe Kopfschmerzen. Als Passanten ihn am Freitag nach der Tat überwältigten, verletzte einer ihn am Kopf.

Seither bemühen sich die Behörden herauszufinden, ob dies überhaupt ein Akt des Terrorismus war oder eher eine Art Amoklauf in einer psychischen Ausnahmesituation. Staatsschützer sehen mit Sorge, dass psychisch auffällige Personen versucht sein könnten, die tödliche Ideologie als Rechtfertigungsrahmen für persönliche Wut oder Verzweiflung zu nutzen. Dann stellt sich umso mehr die Frage, warum es nicht, wie vorgeschlagen, schnelle psychologische Hilfe gab.

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