Angriff auf Österreich 1915:So trieb Italien in den Ersten Weltkrieg

Italienische Soldaten während einer Isonzoschlacht, 1916

Italienische Soldaten auf einem Bergkamm. Vermutlich stammt die Aufnahme aus einem später gedrehten Kinofilm.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Zehn Monate sieht das neutrale Italien zu, wie sich der Erste Weltkrieg unerhört grausam entwickelt. Warum schaltet sich Rom 1915 ohne Not ein?

Von Gustav Seibt

Als der König von Italien dem Kaiser von Österreich am 23. Mai 1915 den Krieg erklärte, reagierte Franz Joseph mit einem Manifest, das von einem "Treubruch" sprach, "dessengleichen die Geschichte nicht kennt".

Die Entrüstung war nicht gespielt. Mehr als dreißig Jahre hatte Italien im "Dreibund", den noch Bismarck gegründet hatte, zusammen mit Deutschland und Österreich einen zentraleuropäischen Block gebildet, zur gegenseitigen Verteidigung und zum friedlichen Ausgleich der Interessen, die vor allem zwischen Italien und Österreich immer wieder divergierten.

Noch im Winter 1913/14 hatten die Generalstäbe Deutschlands und Italiens gemeinsame Militäraktionen im Fall eines deutsch-französischen Kriegs erwogen - sogar an die Entsendung italienischer Truppen an den Rhein war gedacht worden, ganz abgesehen davon, dass Italien französische Kräfte in den Westalpen hätte binden sollen.

Bei Kriegsausbruch im August 1914 allerdings hatte Italien sich sogleich neutral erklärt, da es im österreichisch-serbischen Konflikt keinen Verteidigungsfall erkennen konnte. Österreich war traditionell unbeliebt, und es hatte Italien in der Juli-Krise nach dem Attentat von Sarajevo auch mit törichter Arroganz von den Verhandlungen ausgeschlossen.

Zehn Monate lang schwankte die italienische Politik danach, ob das Land weiter neutral bleiben oder auf der Seite der Entente-Mächte Frankreich, Großbritannien und Russland gegen die alten Verbündeten in den Krieg ziehen solle. Die Option eines Kriegseintritts auf deutscher Seite spielte nach einem Wechsel in der Regierung und im Generalstab im ersten Halbjahr 1914 keine Rolle mehr.

Der heilige Egoismus nationaler Politik

In den zehn Monaten der Unsicherheit bis zum Mai 1915 hatte die italienische Regierung ausreichend Gelegenheit, den Charakter des neuen Krieges mit seiner unerhörten Grausamkeit wahrzunehmen. Auch dass er nicht mehr rasch zu beenden sein würde, war kaum noch zu verkennen.

Inzwischen waren in Frankreich Hunderttausende gestorben, an der Westfront hatten sich die Armeen in die Erde vergraben, im Osten wechselte das Kriegsglück dramatisch.

Italien aber verhandelte gleichzeitig mit Berlin und Wien und mit Paris und London, um den Preis hochzutreiben. Damals prägte der italienische Ministerpräsident Salandra das geflügelte Wort vom "sacro egoismo", dem heiligen Egoismus nationaler Politik, als moderner Gestalt machiavellistischer Illusionslosigkeit.

Italien wollte Kompensationen entweder für einen möglichen Kriegseintritt (von der Entente) oder für eine fortdauernde Neutralität (von den Mittelmächten). Seine Ziele waren die "unerlösten" italienischsprachigen Gebiete Österreichs - das unter seinen Völkern auch 800 000 Italiener zählte -, Provinzen in Südtirol und an der Adria, außerdem mehr Einfluss auf dem Balkan.

Höhnischer Gegenvorschlag aus Wien

Paris, London und Berlin waren zu großzügigen Zugeständnissen bereit, kaum überraschend, da es sich um Absprachen zu Lasten eines Vierten, nämlich Österreichs, handelte.

Dieses sperrte sich lange, vor allem gegen Gebietsabtretungen - etwa des Trentinos - mitten im Krieg, die administrativ nur schwer umzusetzen und der heimischen Öffentlichkeit kaum zu vermitteln gewesen wären. Warum sollte man Krieg führen, wenn man eigene Gebiete kampflos einem nicht einmal mitkämpfenden Nachbarn ausliefern solle?

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Aus Wien kam der höhnische Gegenvorschlag, Deutschland könne ja Elsass-Lothringen an Frankreich zurückgeben, und dann könnten alle wieder nach Hause gehen.

Am Ende hatten die Entente-Mächte mehr anzubieten, denn sie mussten ja nicht sofort liefern: Sie boten die Brennergrenze, Istrien, Triest, Einfluss in Albanien und Teile des Osmanischen Reiches an. Als Italien am 24. April 1915 in London darüber einen Geheimvertrag abschloss, konnte es sich schmeicheln, nun endgültig in die Runde der europäischen Großmächte aufgenommen worden zu sein.

Vier Wochen später begann der Krieg in den Alpen. Die verzweifelten Bemühungen deutscher Emissäre wie Matthias Erzberger und Fürst Bülow, Italien zu halten, waren ebenso vergeblich geblieben wie die Warnungen des Papstes.

Leichtsinn und Panik

Italien ging also sehenden Auges, mit realpolitischem Kalkül in den Ersten Weltkrieg, nicht in der Mischung aus Leichtsinn und Panik, mit der sich die Großmächte im Sommer 1914 in den Weltbrand gestürzt hatten.

Allerdings tobten inzwischen die Leidenschaften auf vielen Straßen und Plätzen, angeheizt vor allem von den "Interventionisten", also der Kriegspartei.

Ihre Wortführer waren der Dichter Gabriele D'Annunzio, der im Mai 1915 ein Dutzend in ihrem Pathos heute kaum zu ertragender Reden vor Zehntausenden Zuhörern hielt, und der Sozialist Benito Mussolini, der sich in fliegendem Wechsel von einem linksradikalen Pazifisten zu einem nationalistischen Kriegstreiber wandelte, und dafür sogar eine neue Zeitung finanziert bekam, unter anderem von der italienischen Waffenindustrie.

Das wirtschaftlich eher zurückgebliebene, gesellschaftlich tief gespaltene Italien wurde in Kultur und Propaganda zu einem Laboratorium der Avantgarde, wo schon im ersten Halbjahr 1915 der neue faschistische Propagandastil der Zukunft erprobt wurde, der Appell an die Massen, die hämmernde Rhetorik, das Pathos von Blut und Kampf.

Dem angeblich kühlen "sacro egoismo" von Ministerpräsident, Außenminister und König sprang die neue Massenagitation ebenso paradox wie wirkungsvoll an die Seite. Selten sind Kabinettspolitik und Literatengeschwätz eine so explosive Verbindung eingegangen.

Das Tragische an diesen nur aus dem Geist ihrer Zeit, dem ungebrochenen Machtstaatsdenken und der Obsession mit nationaler Integrität, begreiflichen Vorgängen war: Die italienische Gesellschaft in ihrer Breite war gar nicht für den Krieg, weder die liberale Parlamentsmehrheit noch die katholische Kirche, am wenigsten die arme Landbevölkerung, die schon der verbreitete Analphabetismus daran hinderte, das Wüten in den Zeitungen zur Kenntnis zu nehmen.

Arme Teufel aus dem Süden

Es waren aber diese armen Teufel vom Land und aus dem Süden, die dann den Blutzoll des entsetzlich grausamen Alpenkriegs bis 1918 zahlen mussten: 600 000 Tote und eine Million Verwundete hatte Italien bis Kriegsende zu beklagen.

Dazu kommt, dass man Italien einen Großteil seiner nationalen Forderungen auch ohne Krieg erfüllt hätte - selbst Österreich war im letzten Moment zu so großen Zugeständnissen bereit, dass die Empörung Kaiser Franz Josephs am 23. Mai 1915 begreiflich wird, mögen diese Zugeständnisse auch zu spät gekommen sein.

Mit größerem Abstand fragen sich Historiker heute, wie entscheidend für den Kriegsausgang die italienische Teilnahme war. Da alles in diesem Krieg so knapp war, darf man sie nicht unterschätzen, selbst wenn man nicht viel von der über Jahre verlustreichen und erfolglosen Offensivstrategie des italienischen Oberbefehlshabers Luigi Cadorna hält.

Jedenfalls hat die Alpenfront österreichische und deutsche Kräfte gebunden, die anderswo fehlten; hätte Italien Deutschland im Sommer 1914 die einst vorgesehene entschiedene Hilfe gebracht, dann wäre möglicherweise sogar die Marneschlacht anders ausgegangen.

Daher ist der heute in den Geschichten des Ersten Weltkriegs meist nur noch in Nebensätzen präsente Kriegseintritt Italiens eine wichtige Tatsache, auch für seinen materiellen Ausgang.

Viel bedeutender aber sind seine Folgen für die weitere Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert. Und diese kann man nur katastrophal nennen. Ohne den Weltkrieg mit seinen furchtbaren menschlichen und ökonomischen Folgen wäre Italien nie ein faschistisches Land geworden.

Wirtschaftlicher Zusammenbruch und nationale Kränkung

Nicht nur stand der Sieg von 1918 eigentlich nur auf mit Blut beschriebenem Papier, zu hoch waren die Opferzahlen, zu knapp der Erfolg in den letzten Gefechten.

Vor allem erreichte Italien 1919 in Versailles dann doch nicht die Erfüllung aller Zusagen des Londoner Vertrags von 1915, unter anderem weil der amerikanische Präsident Wilson keine Geheimverträge anerkennen wollte und auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker beharrt hatte.

Italienische Kriegsgefangene, 1917

Italienische Soldaten in österreichischer Kriegsgefangenschaft in Venetien 1918.

(Foto: Scherl/SZ-Photo)

Die zynischen Pläne, die Türkei aufzuteilen, scheiterten am Widerstand Atatürks, also ging Italien auch hier leer aus. Es erhielt die Brennergrenze, handelte sich damit aber auch das Südtirol-Problem ein.

Zusammen mit dem Elend des wirtschaftlichen Zusammenbruchs nach dem Krieg führte das zu einer tiefen nationalen Kränkung, die im Wort vom "verstümmelten Sieg", der "vittoria mutilata", ihre Parole fand. Verstümmelt, verbittert und arbeitslos waren vor allem Zehntausende demobilisierter Soldaten, die sogleich die Kampfgruppen der faschistischen Bewegung füllten, die unter Mussolini vier Jahre nach dem Krieg die Macht in Italien an sich riss.

"Erlösung" als Phantasma

Der Komplex aus Verarmung und Kränkung war wie zehn Jahre später in Deutschland der Bodensatz, aus dem die Diktatur wuchs. Auch hier wurde Italien zum Laboratorium eines unseligen Fortschritts, und auch deshalb gehört sein Kriegseintritt 1915 zu den weltgeschichtlich bedeutsamen Daten des 20. Jahrhunderts.

Lange hat die italienische Erinnerung unter dem in Deutschland längst vergessenen Vorwurf des "Verrats" an seinen Dreibundpartnern gelitten - noch Mussolinis Kriegseintritt an der Seite Hitlers 1940 hat damit zu tun. Trotzdem haben viele besonnene Historiker, darunter sogar der liberale Geschichtsphilosoph Benedetto Croce, den Kriegseintritt von 1915 verteidigt.

Man sah darin den letzten Unabhängigkeitskriegs Italiens und befand, in den Unterständen der Dolomiten oder in den Schlachten am Isonzo habe das italienische Volk sich erstmals als Einheit erlebt.

Mit solchen Phrasen hat nun der italienische Journalist und Autor Roberto Giardina aufgeräumt, der seine Chronik zum italienischen Kriegseintritt ("La grande guerra", Imprimatur Editore, Reggio di Emilia 2014) mit den erschütternden Stimmen jener "armen Teufel" vom Land enden lässt, welche die Zeche bezahlten.

Der einzige greifbare Siegespreis, die "Erlösung" der österreichischen Italiener, war ohnehin ein Phantasma. Ein US-Historiker hat nüchtern gefragt, warum Italien, das Land ältester Kultur, das Land der Kirche, sich 1914 nicht für die Möglichkeit entschied, eine große Schweiz am Mittelmeer zu werden, der schöne Garten Europas.

Die Antwort liegt weniger in den kurzsichtigen Kalkülen der leitenden Staatsmänner als im künstlichen Feuer der Reden Gabriele d'Annunzios. Selten war ein Schriftsteller politisch so erfolgreich, und selten war ein Sieg des Wortes über die Wirklichkeit so verheerend.

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