Angesteckt:Es lag am Gesang

Die Baptisten erklären, wie es bei ihnen zu den Infektionen kam - in anderen Kirchen lösen sie eine Art Erleichterung aus.

Von Matthias Drobinski und Annette Zoch, Frankfurt/München

Coronavirus - Frankfurt am Main

In diesem Gebäude lief etwas schief: Offenbar hat die Baptisten-Gemeinde in Frankfurt-Rödelheim einige Sicherheitsvorkehrungen missachtet.

(Foto: Arne Dedert/dpa)

Am Montag haben sich die Verantwortlichen der Evangeliums-Baptisten-Gemeinde in Frankfurt-Rödelheim auf ihrer Homepage erklärt. "Wir sind tief bestürzt und traurig, dass die Infektion Eingang in unsere Gemeinde gefunden hat und sich mit einer starken Dynamik verbreitete", heißt es da. Die Gedanken und Gebete der Gemeinde seien bei den Erkrankten und ihren Angehörigen, vielen gehe es schon wieder besser - der Vereinsvorsitzende allerdings befinde sich "in kritischem Zustand auf der Intensivstation". Noch einmal betonen die Evangeliums-Baptisten, dass sie den vorgeschriebenen Abstand eingehalten und Desinfektionsmittel bereitgestellt hätten. Dann aber folgt der Satz: "Im Nachhinein betrachtet wäre es für uns angebracht gewesen, beim Gottesdienst Mund-Nasen-Schutz-Bedeckungen zu tragen und auf den gemeinsamen Gesang zu verzichten."

Baptisten

Der Titel Baptisten ist eine Selbstbezeichnung aller Gemeindeströmungen, die eine sogenannte Gläubigentaufe an mündigen Taufbewerbern praktizieren - statt der von den großen Kirchen praktizierten Kindertaufe. Im Bund der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden (BEFG) sind nach eigenen Angaben in Deutschland 800 Ortsgemeinden mit 82.000 Mitgliedern zusammengeschlossen - die Rödelheimer Gemeinde gehört nicht dazu. Der BEFG ist Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK). Dort heißt es, der BEFG unterscheide sich von anderen Kirchen auch durch sein Gemeindeverständnis. Dort werde das "Laienelement" stark betont. Nach baptistischem Verständnis gebe es keine kirchliche Handlung, die ausschließlich Amtsträgern vorbehalten wäre. kna

Der Satz erklärt, warum sich das Corona-Virus bei einem Gottesdienst der deutsch-russischen Freikirche am 10. Mai und anschließend in den oft kinderreichen Familien der Gläubigen so verbreiten konnte, dass sich mehr als 100 Menschen infizierten. Gemeinschaftlicher Gesang in geschlossenen Räumen gilt als Virenbrücke von Mensch zu Mensch, zu übertreffen nur durch den Einsatz von Blasinstrumenten. Die Erklärung der Rödelheimer Baptisten dürfte aber auch Erleichterung in den Kirchenverwaltungen in Deutschland bewirken: Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die katholische Deutsche Bischofskonferenz empfehlen dringend, bei den nun wieder zugelassenen Gottesdiensten auf den Gesang zu verzichten. Überhaupt interpretieren Bistümer und Landeskirchen auch sonst die Auflagen der Bundesländer strenger, als die Baptisten-Gemeinde das offenbar tat. Der Bund der evangelischen Freikirchen hat ebenfalls ein strenges Konzept erarbeitet, das unter anderem einen Mund-Nase-Schutz im Gottesdienst und den Verzicht auf den Gemeindegesang empfiehlt.

Die bange Frage, ob dies alles nicht ausreicht, um Gottesdienstbesucher zu schützen, kann also von den Kirchenverantwortlichen mit einem beruhigenden, wenn auch vorläufigen: "Es genügt" beantwortet werden. "Das Infektionsgeschehen in Rödelheim hat keine Auswirkungen auf unsere Regeln", sagt Volker Rahn, Sprecher der Evangelischen Kirche in Hessen-Nassau (EKHN). Der Mundschutz sei Pflicht, Gemeindegesang und Posaunenchor vorerst verboten, zudem müssten sich die Gottesdienstbesucher in Listen eintragen, um bei Bedarf Infektionsketten schnell nachverfolgen zu können - auch das war in Rödelheim nicht geschehen. Die EKHN rate zu kurzen Gottesdiensten, gerne im Freien. "Das wird gut angenommen", sagt Rahn; überhaupt sei erstaunlich, "wie verantwortungsvoll die Gemeinden mit der Situation umgehen - obwohl auch wir nicht garantieren können, dass bei uns keine Infektion vorkommt". Die Regeln im katholischen Bistum Limburg sind vergleichbar streng. Dort heißt es als Reaktion auf die Infektionen in Rödelheim: "Wir sind nicht entspannt, bleiben aber ruhig."

Die Kirchenleitungen waren in den vergangenen Wochen kritisiert worden, zu schnell und in vorauseilender Staatstreue Gottesdienste und gemeinsamen Gesang verboten zu haben - nun dürften sich die Verantwortlichen in ihrer Linie bestätigt sehen. Für Pfarrerinnen, Pfarrer und Gläubige wird es also auch in nächster Zeit ungewöhnlich bis eigentümlich bleiben, gemeinsam Gottesdienst zu feiern. Ulrich Clancett, katholischer Pfarrer in Jüchen bei Düsseldorf, hat - obwohl es in Nordrhein-Westfalen schon länger wieder möglich war - zunächst darauf verzichtet, Gottesdienste zu feiern. "Gottesdienste leben von der Gemeinschaft", sagt er. Erst am Sonntag nach Pfingsten werde der erste öffentliche Gottesdienst gefeiert; aber auch dieser mit Teilnehmerbeschränkung und unter Beachtung der strengen Regeln. Die ersten Probe-Gottesdienste nur für feste Gruppen wie örtliche Vereine oder eine Frauengruppe hätten gut funktioniert, sagt Clancett: "Alle halten Abstand, es wird nicht gesungen, bestenfalls gesummt." Für ihn sei es aber schon seltsam, eine weitgehend stumme Gemeinde vor sich zu haben und bei der Kommunion die Hostie in die Hände der Menschen fallen zu lassen - "das musste ich schon ein bisschen üben."

Clancetts Münchner Amtsbruder, Stadtpfarrer Rainer Maria Schießler, sieht, was die Einhaltung der Hygieneregeln angeht, das hierarchische Kirchensystem als Vorteil an: "Wir unterliegen der ständigen Kontrolle, und das garantiert auch eine gewisse Sicherheit." Seiner Ansicht nach wird Corona die organisierten Konfessionen verändern: "Menschen, die vorher vielleicht ab und zu gekommen sind, werden ganz wegbleiben. Wir werden die Emanzipation des Kirchenbesuchers erleben, der diesen Kirchenbesuch vielleicht gar nicht mehr braucht für das eigene Glaubensleben."

Eins aber ist für ihn klar: "Eine Heilsveranstaltung darf nicht zum Infektionshotspot werden. Kein Gebet und kein Sakrament der Welt macht Viren unschädlich."

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