Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat den Kurs ihrer Partei in der Migrationspolitik kritisiert. „Ich finde das nach wie vor nicht richtig“, sagte sie zu Forderungen, Asylbewerber an der Grenze zurückzuweisen. In einem Interview mit der Zeitschrift Spiegel erklärte sie: „Es ist doch eine Illusion anzunehmen, alles wird gut, wenn wir Flüchtlinge an der deutschen Grenze zurückweisen.“ Sollte es der EU nicht gelingen, das Problem der illegalen Migration zu lösen, fürchte sie „ein Stück Rückabwicklung der europäischen Integration, mit Folgen, die man nicht abschätzen kann“.
Beim Blick auf ihre Regierungszeit verteidigte Merkel das Offenhalten der deutschen Grenzen während der Flüchtlingskrise von 2015. „Ich hatte damals das Gefühl, ich hätte sonst die gesamte Glaubwürdigkeit der Sonntagsreden über unsere tollen Werte in Europa und die Menschenwürde preisgegeben“, sagte die 70-Jährige. „Die Vorstellung, zum Beispiel Wasserwerfer an der deutschen Grenze aufzustellen, war für mich furchtbar und wäre sowieso keine Lösung gewesen.“
Ausdrücklich bejahte Merkel eine „Bringschuld“ der Deutschen gegenüber Zuwanderern: „Ohne die Offenheit und Veränderungsbereitschaft der aufnehmenden Gesellschaft kann es keine Integration geben. Voraussetzung ist ein Mindestmaß an Wissen über andere Kulturen, ich muss mich schon dafür interessieren.“
Merkel beteuerte aber, sie habe „die Ängste der Menschen vor zu viel Zuwanderung und islamistischem Terrorismus immer sehr ernst genommen: Wenn man auf ein Volksfest geht und fürchtet, hinter mir zieht gleich einer ein Messer, dann ist das sehr verunsichernd, auch wenn es diese Gefahr in dem Moment vielleicht gar nicht gibt“. Aber als Kanzlerin hätte sie auch Politik für Leute machen wollen, die Angst hätten, „dass wir zu intolerant und hart werden“.
Geflüchtete erwarte „hier in der Bundesrepublik auch nicht das tollste Leben“
Merkel sprach im Interview über ihre Autobiografie, die sie kommende Woche vorstellen will. Darin schreibt sie dem Spiegel zufolge, dass sie die verzweifelte Lage der Geflüchteten in Ungarn 2015 an die DDR-Bürger erinnert habe, die kurz vor dem Mauerfall in der westdeutschen Botschaft in Prag Zuflucht gesucht hatten.
Mit ihren DDR-Erfahrungen verteidigte die Altbundeskanzlerin auch ihre Selfies mit Flüchtlingen: „Ein freundliches Gesicht bringt niemanden dazu, seine Heimat zu verlassen. Ich kenne viele Flüchtlinge aus der DDR. Niemand hätte sich auf den Weg gemacht wegen der Aussicht auf einen Handshake mit Helmut Kohl.“ Ohnehin erwarte Geflüchtete „hier in der Bundesrepublik auch nicht das tollste Leben“.