Angela Merkel im Bürgerdialog:Wie die Kanzlerin ein Flüchtlingsmädchen zum Weinen bringt

Politik trifft Realität: Einem Mädchen aus Palästina droht die Abschiebung. Beim Bürgerdialog erzählt sie der Kanzlerin ihre bewegende Geschichte. Merkel zeigt sich hilflos - oder gefühlskalt?

Von Paul Munzinger

Als Reem anfängt zu weinen, hält Angela Merkel inne. Sie legt den Kopf schief, setzt ein mütterliches Gesicht auf und seufzt. "Ach komm." Dann geht sie auf das Mädchen zu, streichelt ihr über den Kopf und sagt: "Du hast das doch prima gemacht." Dass die Kanzlerin da etwas nicht ganz richtig verstanden hat, ist auch dem Moderator aufgefallen. "Ich glaube nicht, Frau Bundeskanzlerin, dass es da ums Prima-machen geht", sagt er.

Nein, Reem hat kein Lampenfieber. Zehn Minuten lang hat sie der Kanzlerin während des Bürgerdialogs in einer Schule in Rostock ruhig und ausgesucht höflich ihre Geschichte erzählt (das ungeschnittene Video findet man auf der Seite der Bundesregierung). Dass sie "hauptsächlich aus Palästina" stamme, aber vor vier Jahren über den Libanon nach Deutschland gekommen ist. Dass sie sich sehr schnell integriert hat, was sie gar nicht hätte erklären müssen. Dass ihr Vater nicht arbeiten darf, weil die Familie keine Aufenthaltsbestätigung hat. Dass sie fast abgeschoben worden wäre. Dass sie Sprachen liebt und sich wünscht, irgendwann studieren zu können. Dass sie nicht länger zusehen will, wie andere das Leben genießen, aber sie nicht.

"Ich weiß nicht, wie meine Zukunft aussieht"

"Ich bin ja jetzt hier", sagt Reem. "Aber ich weiß nicht, wie meine Zukunft aussieht, solange ich nicht wirklich weiß, dass ich hierbleiben kann."

Die Kanzlerin weiß das auch nicht. Und weil sie Angela Merkel ist, tut sie auch nicht so, als wüsste sie es. Es sei nicht gut, wenn die Prüfung von Asylanträgen zu lange dauert, sagt sie. Es müsse ein beschleunigtes Verfahren geben - "davon könntest du vielleicht auch profitieren. Und dann sagt man Ja oder Nein." Merkel will niemandem etwas versprechen, das sie nicht halten kann. Auch einer Sechstklässlerin nicht, die wissen will, ob sie in Deutschland eine Zukunft hat.

"Politik ist manchmal hart", sagt Merkel zu Reem. "Es werden manche wieder zurückgehen müssen." Es sind keine schönen Botschaften, die Merkel den 32 Kindern der Paul-Friedrich-Scheel-Schule in Rostock zumutet. Und sie bemüht sich auch nicht, sie hübsch zu verpacken. Merkel hat nur ein Wörterbuch, und das ist ein politisches. Die Sprache der Kinder spricht sie nicht. Auf Reems Fragen antwortet sie, als spreche sie mit einem Funktionär. Einmal unterbricht sie das Mädchen, recht schroff, und sagt. "Das muss einer Entscheidung zugeführt werden."

Will Merkel die Probleme wegstreicheln?

Ist das ehrlich? Oder herzlos? Als das Mädchen weint, sagt die Kanzlerin. "Ich weiß, dass das eine sehr belastende Situation ist. Und deshalb möchte ich sie trotzdem einmal streicheln." Unter dem Hashtag #merkelstreichelt ist in den sozialen Medien eine heftige Debatte entbrannt. Der Tenor der meisten Kommentare: Eine gefühlskalte Bundeskanzlerin will die Probleme, die ihre Politik verursacht, einfach wegstreicheln. Dass der NDR ein gekürztes und damit dramatisiertes Video veröffentlicht hat, hat den Zorn wohl noch angeheizt.

Felix Seibert-Daiker sieht das anders. Er hat den Bürgerdialog moderiert, eigentlich arbeitet er für den Kinderkanal. "Natürlich hätten wir uns alle gewünscht, dass Merkel Reem in den Arm nimmt und sagt: 'Du darfst bleiben'", sagt er. "Aber so ist die Situation nicht."

Dass Merkel sich herzlos verhalten habe, findet er nicht. "Sie hat menschlich reagiert, auf ihre Art", sagt Seibert-Daiker. Und er empfinde Respekt, dass die Bundeskanzlerin "den Mut hatte, einem Kind deutlich die politische Situation zu erklären. Viele Kollegen hätten da weichspülerisch drum herumgeredet."

Wie auch immer man Merkels Verhalten einschätzen mag: So unmittelbar wie bei diesem Bürgerdialog treffen Politik und Realität, Prinzip und Einzelfall, Kalkulation und Emotion nicht oft aufeinander. Die Debatte darüber, wie Deutschland mit seinen Asylbewerbern umgeht, wird wieder Fahrt aufnehmen. Und sie hat jetzt ein Gesicht: das einer Sechstklässlerin, die "hauptsächlich aus Palästina" kommt.

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