EU:Merkels langer Schatten

EU: Angela Merkel auf ihrem vermutlich letzten EU-Gipfel

Angela Merkel auf ihrem vermutlich letzten EU-Gipfel

(Foto: Olivier Matthys/AP)

Europa steht vor einer Zeitenwende: Wenn die deutsche Bundeskanzlerin nicht mehr mit am Tisch sitzt, wird die Macht neu verteilt. Wer profitiert davon?

Von Stefan Kornelius, München

Natürlich dauert es nur Sekunden, bis diese Niederlage in die große Deutungsmaschine eingefüllt wird: Angela Merkel erleidet eine Schlappe im Europäischen Rat, ihr Wunsch nach einem Treffen der EU-Regierungschefs mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin wird von einer signifikanten Zahl anderer Regierungschefs abgeschmettert. Was also hat das zu bedeuten? Für Merkel, für Deutschland, für die Zukunft des Rats und die Kräfteverhältnisse in Europa, wenn die Bundeskanzlerin nicht mehr Bundeskanzlerin sein wird?

Auch in Brüssel ist die Zeit der Nachlese angebrochen. Angela Merkel ist auf dem Weg hinaus aus dem Amt. Überall letzte Momente: Fragestunde, Regierungserklärung im Bundestag, Europäischer Rat.

Wobei: Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird Merkel noch mindestens einmal an einem Treffen der Staats- und Regierungschefs teilnehmen, am 6. Oktober auf dem Westbalkan-Gipfel in Slowenien. Zehn Tage nach der Bundestagswahl wird der Nachfolger oder die Nachfolgerin noch nicht im Amt sein. Und selbst beim regulären Rat am 22. und 23. Oktober in Brüssel stehen die Chancen nicht schlecht, dass Merkel zumindest als geschäftsführende Kanzlerin auftritt, sollte sich der neue Bundestag dann schon konstituiert haben.

Dennoch: Die Zeit läuft ab, und die Fantasie fährt Achterbahn, wenn die unbestrittene Königin des Rats einen Aufstand der Tafelrunde erlebt, auch wenn sie ihn professionell abtut.

Kein Erbrecht für Merkels Nachfolgerin oder Nachfolger

Die Russland-Episode ließ einen kleinen Einblick zu, wie es um die Machtverhältnisse nach Merkel stehen könnte, und in welcher Pultreihe der neue Kanzler oder die Kanzlerin im Konzert Europas Platz nehmen wird. Die erste Geige oder gar den Dirigentenplatz hatte sich Merkel über 16 Jahre hart erarbeitet, inzwischen ist sie unangefochten an der Spitze. Der deutsche Beitrag entscheidet in der Regel jede Diskussion. Für ihren Nachfolger oder die Nachfolgerin gibt es hier kein Erbrecht.

Der Bedeutungszuwachs Deutschlands in Europa in der Regierungszeit Merkels war nicht nur an die Wirtschaftsleistung, sondern auch sehr an die Person geknüpft. Merkel fiel dank der Schwächen der französischen Präsidenten Sarkozy und Hollande und wegen des britischen Rückzugs aus der EU die Rolle der Maklerin und Schiedsrichterin zu.

Ihr knochentrockener Verhandlungsstil und die unbestechliche Sachlichkeit halfen ihr dabei. Visionen oder große europapolitische Grundsatzreden waren ihr Ding nicht - wer vermittelt und zusammenschnürt, der darf sich nicht festlegen, sondern muss den richtigen Zeitpunkt abwarten können. Auch deshalb hat ihr Russland-Vorstoß den Kreis der Regierungschefs verwundert: Wollte da eine Kanzlerin in Torschlusspanik ein letztes großes Werk anstoßen?

Nach Merkel werden ein paar prominente Figuren aus dem Rat um mehr Sichtbarkeit und Einfluss kämpfen. Ganz oben steht der französische Präsident Emmanuel Macron, der sich für den rechtmäßigen Führungskandidaten hält. Allerdings fehlt ihm die Fähigkeit zur Neutralität, dafür ist er zu ungestüm. Auch der italienische Ministerpräsident Mario Draghi ist ein ernst zu nehmender Herausforderer. Noch immer hängt ihm die Aura des Zentralbankchefs an: unantastbar, präsidial, machtvoll - whatever it takes.

Rutte ist der Anführer im Verein der klaren Aussprache

Und dann sind da die regionalen Fürsten: Viktor Orbán, der Ungar, nach Merkels Abgang der dienstälteste Ministerpräsident (Mai 2010), führt die Gruppe der Widerspenstigen an. Sein Kontrahent Mark Rutte aus den Niederlanden folgte ihm nur vier Monate später ins Amt - er ist der Anführer im Verein der klaren Aussprache. Ursula von der Leyen, die Kommissionschefin, hat auch gute Chancen, ein bisschen was von Merkels Macht zu erhaschen.

Weil dies aber Europa ist, geht es vor allem um Themen und Zeitpläne. Und da kennt der Rat kein Pardon. Nach Merkel gibt es keine Stunde null, es bleibt fünf vor zwölf. Im Mai 2022 wird in Frankreich gewählt, gleichzeitig hat Macron die Ratspräsidentschaft inne. Das bedeutet: Der französische Präsident wird alle Hebel in Bewegung setzen, um bis zum Frühjahrsgipfel das Vorzeigeprojekt "grünes Europa", den ökologischen Umbau des gesamten europäischen Anreiz- und Zuschusssystems, in Beschlüsse zu gießen - und sich als großer europäischer Steuermann zu präsentieren.

Diese Beschlüsse aber haben es in sich: Es geht um die größten Summen, die seit Langem in der EU bewegt wurden; es geht um den Konflikt zwischen Verordnungsrecht und den Marktkräften; es geht in Frankreich um die Gelbwesten und in Polen um die Kohle; es geht um die Zukunft der deutschen Industrie. Über all diese Themen wird bereits jetzt im Hintergrund verhandelt. Es riecht nach Konflikt und Streit. Merkels Schatten wird mit am Tisch sitzen, wenn die nächste Nachtrunde in Brüssel ansteht.

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