Ehrlicher hätte die Kanzlerin nicht antworten können. Als Angela Merkel vor wenigen Tagen gefragt wurde, ob sie zur Rettung der Jamaika-Verhandlungen die eigenen Ziele nicht deutlicher hätte benennen müssen, sagte sie, in jener Zeit hätten sich so viele andere geäußert, da hätte noch eine Stimme die Lage auch nicht mehr gebessert. Das klang bescheiden, es wirkte als wolle sie sich zurücknehmen. Im Kern aber war es die Botschaft: Meine Meinung ist nur eine von vielen und also auch nicht weiter wichtig.
Man kann über so ein Politikverständnis staunen. Oder man kann sich bewusst machen, dass Angela Merkel ganz aktuell noch einmal Angela Merkel erklärt hat. So wie sie seit Jahren regiert und agiert; so wie sie große Krisen angeht und wie sie Koalitionen bildet. Lass die anderen reden, schimpfen, schreien und fordern. Ich - die Kanzlerin - werde am Ende eh alles zusammenbinden.
Dahinter steht eine strategische Grundausrichtung. Und die lautet: Wo ich bin, ist die Mitte - egal, wohin diese gerade wandert. Mitte ist Mitte, ganz gleich, ob die SPD, die CSU oder die Grünen diese mal eben besonders stark in eine Richtung verschoben haben. Dass Merkel diese Mitte so gut wie nie selbst definiert, hat sie in zwölf Jahren Kanzlerschaft nicht wirklich gestört. Ihre Strategie war wichtiger als ihre Überzeugung. Ganz nüchtern beschrieben.
Man kann das klug nennen, weil das Merkel'sche Prinzip mehr als zehn Jahre gut funktioniert hat. Man kann es als liberalen Pragmatismus beschreiben; immerhin bleibt sie auf Abstand zu allem, was extrem aussieht. Aber man kann das auch problematisch finden, weil es immer um das Ausbalancieren anderer Kräfte geht und nur selten um das eigene Bekenntnis; weil es clever wirkt, aber das Publikum nicht nachhaltig an einen bindet; und weil sich über die Zeit das Profil der eigenen Partei und der eigenen Person auflöst.
Was also passiert, wenn beim Publikum der Eindruck wächst, dass die Kaiserin inhaltlich nackt sein könnte? Dann hat sie formal noch die Macht, aber ihr Einfluss auf die Ereignisse schwindet. Angela Merkel nähert sich dem Punkt, an dem sich dieses Gefühl breit macht.
Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, muss man ein Stück zurückgehen. Genauer gesagt in den Herbst vor zwölf Jahren. Es war für Merkel der Start in ihre Kanzlerschaft. Aber es war auch der Herbst ihrer politischen Katastrophe. Zwei Jahre lang hatte sie mit Verve für große Reformen geworben; seit dem Spätsommer 2003 war sie sehr entschieden und sehr deutlich für einen Umbau des Gesundheits- und des Steuersystems eingetreten. Doch obwohl sie noch wenige Wochen vor dem Wahltag bei fast 48 Prozent Zustimmung gelegen hatte, stürzte sie bis zu jenem 18. September 2005 auf 35 Prozent ab - und konnte sich nur mit größter Mühe in eine große Koalition retten.
Merkel ließ andere vorpreschen
Dass sie gerade eben noch so ins Kanzleramt einzog, verdeckte Vieles; der Neuanfang überlagerte alle Versuche der Ursachenforschung. Merkel und ihre Getreuen schworen sich gleichwohl, wenn auch nur hinter verschlossenen Türen, dass sie ein derartiges Risiko nie wieder eingehen würden.
So begann das neue Denken. Die Idee des Austarierens. Die Strategie: Lass andere vorpreschen, du wirst den Mittelweg durchsetzen. Merkel agierte nicht als Ideengeberin, sie passte sich den Winden und Ideen anderer an. Und sie tat das immer nur dann, wenn es in die Stimmung passte - oder unbedingt sein musste.
Kita-Ausbau und Elterngeld waren nicht ihre Ideen, sondern Initiativen der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen, früh abgeschaut von den Sozialdemokraten. Die Rolle als Umweltkanzlerin auf dem G-8-Gipfel in Heiligendamm passte Merkel zwar wunderbar ins zweite Amtsjahr. Aber wie viel ihr das Thema wert war, zeigt sich an anderer Stelle: Seit 2009 ist der CO₂-Verbrauch in Deutschland nicht gefallen.