Süddeutsche Zeitung

Angela Merkel:Die Erblast

Die scheidende CDU-Chefin wurde als Kanzlerin der freien Welt gefeiert. Doch sie war nicht mächtig genug, ihre Politik in der EU und gegen die USA durchzusetzen. Von ihren Nachfolgern wird viel verlangt werden.

Von Daniel Brössler

Angela Merkel ist in dieser Woche von einem Amt zurückgetreten, das sie nie offiziell übernommen und das sie vielleicht auch nie angestrebt hat. 2015, im Jahr der Flüchtlingskrise, wurde Merkel vom US-Magazin Time zur Person des Jahres und zur Kanzlerin der freien Welt erklärt. Der irische Künstler Colin Davidson schuf damals für das Titelbild der Zeitschrift das Porträt einer gütig-melancholisch in die Ferne schauenden Merkel. Zu sehen war eine Frau, die Geborgenheit zu versprechen schien. Niemand wusste vermutlich besser als Merkel, dass dieses Versprechen nicht zu halten sein würde. Ihre jetzige Ankündigung, im Dezember nicht mehr für den Vorsitz der CDU zu kandidieren, hat Merkel interessanterweise mit der Klarstellung verbunden, dass es für sie nach dem absehbaren Ende der Zeit als Kanzlerin keine Zukunft im Dienste Europas geben werde. Mit dem schrittweisen Abschied Merkels von der Macht beginnt auch der Abschied der Welt von Merkel - und damit von einer Ära.

Als Merkel 2005 erstmals ihren Amtseid ablegte, wohnte im Weißen Haus noch George W. Bush. Donald Trump ist der dritte US-Präsident, mit dem sie es zu tun hat, Theresa May vierter britischer Premier und Emmanuel Macron der vierte Präsident Frankreichs. So gut wie niemand in der Welt der westlichen Demokratien kann es mit ihrem Kapital an Erfahrung aufnehmen. Das, verbunden mit einer fast schon aufreizenden Gelassenheit, hat den Wert der internationalen Marke Merkel enorm gesteigert. Die Kanzlerin erwarb sich den Ruf, die wirtschaftliche Macht Deutschlands stets dosiert und meist zur rechten Zeit in die richtige Waagschale zu werfen. Die europäische Gemeinschaftswährung gibt es auch deshalb noch, weil Merkel in der Finanz- und Euro-Krise die Nerven behalten hat. Merkel, wiewohl nie Emotions-Europäerin im Stile Helmut Kohls, ist so tatsächlich zu so etwas wie der Anführerin der europäischen Krisengemeinschaft geworden.

Wenn das Jahr 2015 in dieser Hinsicht den Höhepunkt markierte, dann auch deshalb, weil von da an der Abstieg begann. Mit der Entscheidung, die deutschen Grenzen nicht für Flüchtlinge zu schließen, beanspruchte die Kanzlerin eine moralische Autorität, die sie auf europäischer Ebene nicht machtpolitisch übersetzen konnte. Merkel hat Europa vermutlich schwere Verwerfungen auf dem westlichen Balkan erspart, denn die schwachen Staaten dort wären die Leidtragendenden geschlossener Grenzen gewesen. Merkel gehört auch zu den Architektinnen des Deals mit der Türkei. Innereuropäisch aber reichte weder Merkels Macht noch ihre Überzeugungskraft, um auch nur Ansätze von Solidarität durchzusetzen. Es sagt viel über die Lage der Union aus, dass Österreichs nassforscher Kanzler Sebastian Kurz sich so ungeniert als Sieger im Migrationsstreit gerieren kann.

Irgendwann in den vergangenen Jahren ist Merkel an den Punkt gekommen, an dem ihre eingeübten Methoden, das geduldige Schritt für Schritt, und ihr gewohntes Kapital, Erfahrung plus wirtschaftliche Macht, sie nicht mehr weiterbrachten. Das galt in der EU, aber das galt noch viel mehr außerhalb. In der alten, vergleichsweise guten Zeit hatte Merkel noch Freude daran haben können, Macho-Politiker vom Schlage Silvio Berlusconis auflaufen zu lassen. Spätestens seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten ist der Spaß vorbei. Der Einzug eines Nationalisten ins Weiße Haus hat Merkel kalt erwischt. Die daraus resultierende Ratlosigkeit ist seit der berühmt gewordenen Bierzelt-Rede Merkels in München mit dem außenpolitischen Fachbegriff "Trudering" belegt. Er steht für die Erkenntnis, dass Deutschland sich "ein Stück weit" nicht mehr auf die USA verlassen kann, ohne erklären zu können, was daraus folgt. Auch das wird einst zum Erbe der Ära Merkel gehören.

In der Auseinandersetzung mit dem US-Präsidenten zeigt sich, dass Merkel für eine Anführerschaft der freien Welt zwar die Erfahrung, die Vernunft und vielleicht auch das moralische Rüstzeug mitbringt, aber zu wenig Mittel in jener Währung, auf die es in Trumps Welt ankommt. Sein Vorwurf, Deutschlands Wohlstand werde maßgeblich von der US-Militärmacht beschützt, schmerzt jedenfalls nicht deshalb so sehr, weil er falsch wäre. Es ist dies übrigens ein Zustand, den die Franzosen den Deutschen noch viel mehr verübeln als die Amerikaner. Zu der Vorstellung, mit Merkel Europas Einfluss in der Welt sichern zu können, hat der französische Präsident Emmanuel Macron vermutlich schon lange bevor die Kanzlerin ihren Abschied eingeleitet hat, Adieu gesagt.

Insofern hat sich durch Merkels Erklärung nicht grundlegend etwas verändert. Der Verlust an innenpolitischem Einfluss geht in aller Regel brutal und schnell einher mit einem Verlust an internationalem Gewicht. Eine ganze Zeit lang hat Merkel aufgrund ihrer Erfahrung, ihres Netzwerks, ihres Ansehens unter diesem Phänomen weniger zu leiden gehabt als andere. Dennoch sind weder die schleppende Regierungsbildung noch die Qualen der Berliner Koalitionäre den Partnern entgangen. Wenn nun Merkel innenpolitisch das Wagnis eingeht, die Macht mit einem oder einer CDU-Vorsitzenden zu teilen, nimmt die Berechenbarkeit deutscher Politik ab. Und das geschieht eigentlich nur dann in einem vertretbaren Maße, wenn eine Vertraute Merkels und außenpolitisch bislang wenig ambitionierte Politikerin wie Annegret Kramp-Karrenbauer an die Spitze der CDU gewählt würde.

So oder so droht Merkel als lame duck die politische Höchststrafe. Das Interesse an ihr wird abnehmen. Immer weniger wird von Belang sein, wie sie das Tagesgeschäft verwaltet. Und immer wichtiger wird, welche Bündnisse sich in Berlin formieren, welche Politiker nach vorne rücken. Die Frage, ob Deutschland mehr Verantwortung übernimmt, wird weiter gestellt werden. Aber nicht mehr Merkel.

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Quelle:
SZ vom 31.10.2018
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