Süddeutsche Zeitung

Angebliche Gülen-Anhänger:Wie in Deutschland das Regime Erdoğans wirkt

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Der türkische Geheimdienst hat hierzulande ein Klima des Misstrauens geschaffen. Dabei ist Ankara jeden Beleg schuldig geblieben, dass der Prediger Gülen der Drahtzieher des Putschversuches war.

Kommentar von Matthias Drobinski

Du stehst auf der Liste. Der Satz macht Angst, gerade weil er so unbestimmt ist, weil er den Vorwurf und die Bedrohung vage hält: Du bist Feind, irgendwie. Der Staat hat dich entdeckt; er sagt: Wir kennen dich, deine Kinder und Verwandten. Der auf der Liste hat keine Chance, sich zu wehren; beteuert er seine Unschuld, gilt das als Schutzbehauptung.

Auf die Liste der angeblichen Staatsfeinde und Terrorhelfer übertragen, die der türkische Geheimdienst nach dem Putschversuch im Land den deutschen Kollegen überreichte: Wer auf der Liste steht, könnte öffentlich ein Bildnis des türkischen Präsidenten Erdoğan küssen, es würde ihm nichts helfen. Was die Brandmarkung bedeutet, weiß der Gezeichnete nicht: vielleicht nur den Seelenschmerz der ungerechten Verdächtigung; vielleicht, dass er von nun an lieber nicht mehr in die Türkei reist und dass die Freunde und Verwandten dort ihn besser verleugnen. Die Liste der politischen Morde ist lang in der türkischen Geschichte.

Die Denunziationslisten verbreiten Misstrauen und Angst

Es gibt nicht nur diese eine Liste des Geheimdienstes. Es kursieren gerade viele Listen unter deutschen Türken und türkischen Deutschen; schwarz auf weiß, elektronisch geteilt; im Kopf, weitergegeben per Gerücht. Es genügt manchmal, sich für die falsche Schule engagiert zu haben, den falschen Kindergarten. Sie haben ein Klima des Misstrauens und der Denunziation geschaffen, das erschrecken lässt: Deutschtürken misstrauen Deutschtürken, Türken den Deutschen und Deutsche den Türken. Mitten in einem alles in allem friedlichen und demokratischen Deutschland wirkt ein Regime, das ins Niemandsland zwischen Noch-Demokratie und Schon-Diktatur abgerutscht ist. Ja, es wirkt. Und jeder absurde Faschismus-Vergleich des türkischen Präsidenten macht jene stärker, die schon immer wussten: Türken raus.

Es gäbe auch Geheimdienst- und andere Listen, wenn der Putsch eines Teils des türkischen Militärs gelungen wäre, das muss man sich der Fairness halber immer wieder ins Gedächtnis rufen. Es gäbe mindestens die gleiche subtile und offene Repression. Das macht aber das gegenwärtige Denunziantentum nicht besser. Die Türkei ist bislang jeden Beleg schuldig geblieben, dass der Prediger und einstige Mitstreiter Erdoğans, Fethullah Gülen, der Drahtzieher des Putschversuches war und damit dessen Anhänger in aller Welt verkappte Putschisten sind. Das unterscheidet die Liste des türkischen Geheimdienstes übrigens fundamental von jenen Listen der Terrorverdächtigen, die Geheimdienste selbstverständlich führen und auch austauschen müssen. Hier braucht es belastbare Anhaltspunkte. Dort genügt der Verdacht, die Vermutung und manchmal schlicht der böse Wille.

Wie immer das Referendum ausgeht: Vermutlich werden danach die Töne ruhiger, die Denunziationslisten zum Missverständnis erklärt. Die Schäden und Verletzungen aber werden bleiben, mühsam gekittet, vernarbt. Das Miteinander zwischen Deutschen, Türken und Deutschtürken ist um ein Jahrzehnt zurückgeworfen.

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SZ vom 28.03.2017
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