Das Politische Buch:Das konservative Update

Das Politische Buch: Einheit à la CDU: Vor einem Mauerstück posieren im Jahr 2000 der frühere Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg, Friedrich Merz, Noch-nicht-Kanzlerin Angela Merkel, der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors und Ex-Kanzler Helmut Kohl (v. li.).

Einheit à la CDU: Vor einem Mauerstück posieren im Jahr 2000 der frühere Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg, Friedrich Merz, Noch-nicht-Kanzlerin Angela Merkel, der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors und Ex-Kanzler Helmut Kohl (v. li.).

(Foto: Uta Wagner/Imago)

Andreas Rödder ist ein kluger Historiker - und berät Friedrich Merz beim Kulturkampf gegen linke "Moralisierung". In dieser Spannung steht auch das Buch "21.1", die neue Fassung seiner Geschichte unserer Gegenwart.

Rezension von Johan Schloemann

Die Welt bleibt ja nicht stehen. Also muss, wer das löbliche Wagnis eingeht, eine Geschichte der Gegenwart zu schreiben, immer wieder mal an deren Aktualisierung arbeiten. Der umtriebige Mainzer Historiker Andreas Rödder hat es getan: Sein Buch "21.0 - Eine kurze Geschichte der Gegenwart" war im September 2015 erschienen, als der Streit über Angela Merkels Flüchtlingspolitik gerade erst losging. Seitdem kamen Donald Trump, die amerikanisch-chinesische Konfrontation, eine verschärfte Bedrohung durch die Klimaerwärmung, der Brexit, die Corona-Pandemie und Russlands Angriff auf die Ukraine hinzu, und nun heißt Rödders Buch "21.1".

Über die Versionsnummern sollte man, wie bei Computersoftware, nicht zu viel nachdenken (vom 21. Jahrhundert ist ja bald ein Viertel vergangen, für wann ist dann "21.2" zu erwarten?), sondern lieber einfach auf Update drücken. Dann bekommt man ein über weite Strecken behutsam und ausgewogen auf die Höhe der Zeit gebrachtes Kompendium über Deutschlands Lage inmitten globaler Veränderungen. Den Unterschied zu derjenigen vor acht Jahren benennt Andreas Rödder so: "Aus der Frage von 2015, ob die Ordnung von 1990 gescheitert sei, wurde die Frage, warum sie gescheitert ist."

Manches ist gedrängt, manches selektiv

Das ursprüngliche Buch war stark von der Verarbeitung der Finanz- und Euro-Krise geprägt, das merkt man auch der Neufassung noch an. Weiterhin gehen viele heutige Entwicklungen auf Weichenstellungen in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts zurück, auf die Liberalisierung von Märkten wie von Lebensstilen. Hier greift Rödder auf eine Genealogie der vergangenen fünf Jahrzehnte zurück, wie es zum Beispiel auch die Historikerkollegen Anselm Doering-Manteuffel ("Nach dem Boom") und Philipp Sarasin ("1977") getan haben, während Andreas Wirsching in seiner Europa-Zeitgeschichte ("Der Preis der Freiheit") erst mit den Achtzigerjahren einsetzte, um die eigene Epoche in Worte zu fassen.

Wie es bei einer solchen Gesamtdarstellung unvermeidlich ist, ist in Rödders "21.1" manches gedrängt, manches selektiv. Mitunter werden auch beliebte Legenden wiedergegeben, etwa die Erzählung, dass in der Postmoderne die Gedanken französischer Poststrukturalisten "in die Breiten der westlichen Gesellschaften durchsickerten", und zwar dahingehend, dass sie die gesellschaftliche Pluralisierung und politische Zweifel an der Wahrheit befördert hätten. An einer solchen Kausalität bestehen erhebliche Zweifel.

Sonst aber bietet Andreas Rödder einen beeindruckenden und nützlichen Überblick über die Bedingungen zeitgenössischer Lebensverhältnisse und politischer Entscheidungen: Demografie, Formen des Zusammenlebens, Weltwirtschaft, Probleme der Demokratie, Folgen der Digitalisierung, Mentalitätsgeschichte, Europa- bis Sicherheitspolitik. Zahlen und Zeitdiagnose, Fakten und Urteile sind immer wieder geschickt abgemischt.

Das Politische Buch: Historiker, Konservativer und gelegentlich Aktivist: Andreas Rödder an der Uni Mainz.

Historiker, Konservativer und gelegentlich Aktivist: Andreas Rödder an der Uni Mainz.

(Foto: Bert Bostelmann/Uni Mainz)

Die Bedrohung durch Russlands Ukraine-Politik, die Rödder schon in der ersten Auflage klar benannt hatte, verdüstert den Ton zusätzlich in einer Zeit der Wiederkehr von "Unilateralismen und Nationalismen". Es gibt zudem ein neues Kapitel über die drei Jahre der Heimsuchung durch Covid-19; die Pandemie so auf ein paar Seiten historisiert zu sehen, hat allein schon durch die Erzählform etwas Beruhigendes. Dieses Corona-Kapitel ist nüchtern und balanciert geschrieben, auch wenn dort an einer Stelle schon die Klage des Autors über "Moralisierung" auftaucht.

Linke Identitätspolitik als Angriffsziel

Womit wir bei den problematischen Seiten dieses Buches sind. Denn in der Zwischenzeit, seit der ersten Fassung, ist auch mit Andreas Rödder etwas passiert. Der liberal-konservative Professor schlüpft immer öfter in die Rolle des Aktivisten. CDU-Chef Friedrich Merz hat Rödder zum Leiter der Fachkommission "Wertefundament und Grundlagen" gemacht. Als eine entscheidende Bedrohung der Demokratie und als ein (in der Union umstrittenes) Hauptangriffsziel der CDU hat Rödder die linke sogenannte Identitätspolitik ausgemacht. Reizwörter: Gendern, "Cancel Culture", die angeblich gefährdete Meinungsfreiheit.

Das Politische Buch: Die Ahnengalerie des Konservatismus: Am Adenauer-Haus hängen Porträts von Konrad Adenauer, Helmut Kohl und Angela Merkel. Weil es im Wahlkampf 2021 war, ist ganz rechts auch noch Armin Laschet zu sehen. Da müsste man sich nun gegebenenfalls Friedrich Merz vorstellen.

Die Ahnengalerie des Konservatismus: Am Adenauer-Haus hängen Porträts von Konrad Adenauer, Helmut Kohl und Angela Merkel. Weil es im Wahlkampf 2021 war, ist ganz rechts auch noch Armin Laschet zu sehen. Da müsste man sich nun gegebenenfalls Friedrich Merz vorstellen.

(Foto: Michael Kappeler/dpa)

Für diesen Kampf geht Rödder inzwischen auch einige gruselige Allianzen ein, unter dem Motto "Das woke Deutschland bedroht unsere Freiheit". Und wie es eigentümlich ist für die Anti-Wokeness-Bündnisse, wird über etwaige Exzesse der Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik weniger im Einzelnen in der Sache argumentiert, vielmehr greift man lieber auf der Metaebene Kommunikationszusammenhänge an: eine angeblich "ideologisch aufgeladene öffentliche Debatte" und immer wieder jene gefürchtete "Moralisierung".

So läuft es nun auch in Rödders Buch, weil er eingangs feststellt, zu den historischen Veränderungen der vergangenen Jahre zähle eben auch "eine Debatte um Identitätspolitik". Damit werde ein (allerdings fiktiver) "common sense" der Gesellschaft verlassen. Nun verwirft Rödder jedoch in seiner Einleitung als Historiker eine "meinungsgeleitete Pointierung", die anderswohin gehöre, "während sich das geschichtswissenschaftliche Urteil den Ansprüchen erkenntnisoffener und empirisch belegter Analyse stellen muss". Dies zwingt ihn im Buch, im Unterschied zu anderen öffentlichen Einlassungen, zu einer gewissen Selbstzügelung, die Rödder freilich nicht überall gelungen ist.

Das Politische Buch: Andreas Rödder: 21.1. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. Verlag C. H. Beck, München 2023. 510 Seiten, 32 Euro.

Andreas Rödder: 21.1. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. Verlag C. H. Beck, München 2023. 510 Seiten, 32 Euro.

(Foto: C.H. Beck)

In manchen Sätzen etwa suggeriert die zeitgeschichtliche Vergangenheitsform eine historische Überparteilichkeit, wo Rödder eigentlich nur Impressionen und politische Meinungen von sich gibt: "Zugleich zog die Verschiebung des Rahmens neue Grenzen des Sagbaren und nahm ideologische Züge repressiver Toleranz an." Rödder beklagt "die diskursive Abwertung traditioneller Lebens- und Familienformen, von Weißen und Männern" und die "moralische Aufladung" beim Klimaschutz (dessen Notwendigkeit er allerdings nicht leugnet). Bezeichnend ist auch, wie er die Schlussbetrachtungen des Buches gegenüber 2015 redigiert beziehungsweise nicht redigiert hat: Anstatt die Passagen über das Verhältnis zu Russland, die Ukraine oder Deutschlands sicherheitspolitische Position wesentlich neu zu fassen, fügt er dort vor allem jene "Identitätspolitik" hinzu, die in seiner ersten Auflage noch "Inklusion" geheißen hatte.

Ob Andreas Rödder bei der CDU mit seinem Rat durchdringt, sich auf kulturkämpferische Themen zu verlegen, ist ebenso ungewiss wie das Aussehen der nächsten Version von "21.1". Über die Verunsicherung, was eigentlich konservativ ist, kann man aber so oder so aus diesem Buch einiges lernen.

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