Andrea Ypsilanti:Visionen gegen die Bitterkeit

Vor zwei Jahren ist Andrea Ypsilanti als hessische SPD-Vorsitzende gescheitert, heute brütet die ewige Visionärin wieder über Entwürfen für eine bessere Gesellschaft. Ein bisschen mehr Ypsilanti würde der SPD jetzt gut tun, meint Ypsilanti.

Marc Widmann

Kürzlich klebte ein Zettel an ihrer Tür, ein Computer-Ausdruck, darauf stand: "37 Prozent, wenn man auf sozialdemokratische Inhalte setzt - Danke dafür an die Ministerpräsidentin der Herzen." Von wem er stammt, weiß Andrea Ypsilanti nicht, aber der Zettel hängt jetzt am silbernen Regal in ihrem Büro im hessischen Landtag. Fünf mal vier Schritte misst es. Ein kleiner Raum für große Erinnerungen.

Leader of Germany's SPD in Hesse Ypsilanti attends a party board meeting in Berlin

Andrea Ypsilanti sagt, die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft habe aus ihren Erfahrungen als hessische SPD-Spitzenkandidatin lernen können.

(Foto: REUTERS)

Hier steht auch der Stuhl mit einer knallroten Lehne in Form eines Y. Er sei nicht sehr bequem, sagt sie und lacht. Das Y war ihr Symbol in dem Wahlkampf, in dem sie vor fast drei Jahren 37 Prozent erreichte, mehr als die meisten ihr zugetraut hatten. Nur 3511 Stimmen fehlten, dann wäre die SPD stärkste Kraft geworden im Januar 2008 und Andrea Ypsilanti wohl hessische Regierungschefin. Heute, nach dem Drama um ihren Wortbruch, ist sie wieder eine normale SPD-Abgeordnete, zumindest fast. Sie sieht erholt aus, jünger als 53 Jahre. Sie sagt: "Ich mache im Moment auch viele schöne Sachen nebenbei."

Sie liest jetzt wieder englische Bücher, lernt Spanisch mit ihrem Sohn, trifft Freunde. Im Urlaub hat sie tatsächlich frei, keine Telefonkonferenzen mehr. Genießt sie es? "Ich genieße eine viel höhere Zeitsouveränität, aber natürlich nicht, dass ich weniger direkten Einfluss habe", sagt sie. Dass dieser Satz recht hölzern klingt, liegt auch am Misstrauen, das sie seit ihrem Sturz allen Journalisten gegenüber hegt. Einige haben sie "Lügilanti" getauft, das kann sie nicht vergessen. Sie hat alle Zeitungen abbestellt, kauft sich ihre Lektüre nach Bedarf am Kiosk. Sie ist misstrauischer geworden.

Damals war sie eine öffentliche Person, jeder hatte eine Meinung zu ihr. Viele bewunderten sie für ihren Aufstieg, für ihren Mut. Viele verachteten sie für ihren Wortbruch: dass sie doch mit den Linken zusammenarbeiten wollte. Heute ist es still geworden um Andrea Ypsilanti, dafür ist sie selbst verantwortlich. Sie hat sich, als es zu Ende war, ein Jahr völlig zurückgezogen. "Ich habe mich sortiert, mein Leben geordnet", sagt sie, "ich bin nicht von 100 auf 50, sondern einige Zeit auf 0." Der Schritt zur Verbitterung wäre klein gewesen, sagt sie. Aber so wollte sie nicht enden.

Bisweilen laden Universitäten sie zu Anti-Kapitalismus-Workshops ein; sie sagt gerne zu. Und dann ist da ihre "Programmwerkstatt" in Berlin, die sie mitbegründet hat: das Institut Solidarische Moderne. Dort trifft sie sich mit anderen Freunden einer rot-rot-grünen Zukunft, steht in der Nacht auf, damit sie tagsüber an einer "Alternative zum Neoliberalismus" arbeiten kann. Ein Grundsatzpapier entsteht, es sind dicke Bretter zu bohren, aber es macht ihr "Riesenspaß", sagt sie. Das klingt zunächst wie eine Schwindelei: Natürlich muss ihr so was Spaß machen, sie hat ja nichts anderes mehr. Aber so ist das nicht bei Andrea Ypsilanti. So war es noch nie bei ihr. Sie macht jetzt Politik wie damals, wie immer: Es geht um große Entwürfe, um "konkrete Utopien", wie sie es nennt, oder einfacher: um eine bessere Welt. Dafür warb sie schon im Wahlkampf, genau das hat für manche Wähler den Zauber ausgemacht: Dass da eine Frau kam, die Grundlegendes ändern wollte.

Die ewige Visionärin

Wenn man sie fragt nach ihrer damaligen Vision einer "sozialen Moderne", weckt man Leidenschaft. Die ewige Visionärin sagt: "Ich habe den Anspruch an mich und die gesamte SPD, dass ich die Gesellschaft verändern will, und wenn es Widerspruch gibt, lasse ich nicht sofort davon ab." Ein hoher Anspruch ist das, wenige teilen ihn in der heutigen Politik. Die Bundes-SPD eher nicht, weshalb Ypsilanti sich "große Sorgen" macht um ihre Partei: "Sie ist oft nur pragmatisch, sie beschränkt sich darauf, an kleinen Verbesserungen zu arbeiten." Dabei müsse die SPD doch auch über Gesellschaftsentwürfe reden. "Man muss den Menschen vermitteln, wo man hinwill", sagt sie, "aber der Mut für so eine Vorstellung fehlt der Partei." Es sprudelt jetzt aus ihr. Etwas mehr Ypsilanti könnte der SPD guttun, meint Ypsilanti.

Wenn sie im Nachhinein ihren Wahlkampf betrachtet, den 37-Prozent-Wahlkampf, sieht sie "eine Erfolgsgeschichte". Dann findet sie es schade, dass heute nur noch über ihre Fehler, ihren Wortbruch gesprochen wird, über ihr Scheitern. "Natürlich würde ich heute ohne Koalitionsaussage in den Wahlkampf gehen", sagt Ypsilanti. Sie habe damals nicht nur Distanz zur Linkspartei, sondern vor allem einen Politikwechsel versprochen. Und der sei nur mit den Linken zu machen gewesen. Vier Abgeordnete aus der eigenen Partei hatten ihr am Tag vor der Wahl zur Regierungschefin die Gefolgschaft verweigert, weil sie die Tolerierung durch die Linken nicht mittragen wollten, wohl auch aus verletzter Eitelkeit. Vor knapp zwei Jahren kam es zu Neuwahlen, zum Debakel: Die hessische SPD fiel von 37 auf 24 Prozent, sie hatte 13 Zähler verloren und viel Vertrauen. Noch am Wahlabend, am 18. Januar 2009, trat Ypsilanti zurück. Sie hinterließ eine traumatisierte Partei.

Wie harmonisch lief es da etwas weiter nördlich, in Nordrhein-Westfalen. Dort wurde im Sommer Hannelore Kraft Ministerpräsidentin, auch eine SPD-Frau, der nur ein paar tausend Stimmen zum Sieg fehlten. Auch eine, die sich von den Linken tolerieren lässt - sie hat es vor der Wahl nie ausgeschlossen. "Ich habe ihr gegönnt, dass sie aus meinen Erfahrungen lernen konnte", sagt Ypsilanti, "aber natürlich ist auch die Zeit weitergezogen." Bitter ist für sie, wer Kraft bei ihrem Aufstieg applaudierte. "Wie Müntefering und Steinbrück bei ihrer Regierungsbildung dabeisaßen und geklatscht haben - da hatte ich schon einen Hals gehabt, in der Erinnerung, wie sie damals mit mir umgegangen sind", sagt sie. Ihr habe die Bundespartei nicht geholfen. "Außer Kurt Beck, der war fair."

Wer das hört, der weiß, dass Wunden bleiben. Sie sitzt nun im Landtag in der fünften Reihe, Aufsehen erregt sie kaum, nicht mit ihren kleinen Anfragen "betreffend Pensionierungen von Lehrkräften an staatlichen Schulen". Will sie zurück in die erste Reihe? "Das geht im Moment gar nicht", sagt Andrea Ypsilanti. Sie weiß, was ihr Name auslöst. "Es wird keine Neuauflage geben."

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