Andrea Ypsilanti:So nah und doch so fern

Andrea Ypsilanti, die SPD-Spitzenkandidatin in Hessen, wird nicht so recht warm mit den Wählern - weil sie ans große Ganze denkt und weniger an die Probleme des Alltags.

Christoph Hickmann

Sie macht das sehr akkurat. Liest eine Karteikarte vor, legt sie zur Seite, nimmt die nächste. Es dauert fünf Minuten, sie liest die Worte "Gipfel der Heuchelei" und "unerträgliches Schauspiel", dann verlässt die Hoffnung der deutschen Sozialdemokratie das Rednerpult und setzt sich auf ihren Platz.

Andrea Ypsilanti: Wenn sie vor den kleinen Leuten steht, von denen sie immer spricht, wirkt Andrea Ypsilanti wie eine Vegetarierin, die den Leberkäse anschneiden soll.

Wenn sie vor den kleinen Leuten steht, von denen sie immer spricht, wirkt Andrea Ypsilanti wie eine Vegetarierin, die den Leberkäse anschneiden soll.

(Foto: Foto: ddp)

Es ist ein paar Minuten nach neun am Donnerstagmorgen, der hessische Landtag debattiert über den Ausbau des Frankfurter Flughafens, wieder einmal. Es gibt in der Rhein-Main-Region kein wichtigeres, kein umstritteneres Thema, es überlagert hier so gut wie alles.

Es geht um Wachstum auf der einen und Belastung auf der anderen Seite, sehr viele Menschen sind betroffen, auf beiden Seiten, das Thema ist in allen Köpfen. Man fragt sich, ob es ein gutes Zeichen ist, dass Andrea Ypsilanti für eine Rede zu diesem Thema Karteikarten braucht.

Andrea Ypsilanti, 50 Jahre alt, will hessische Ministerpräsidentin werden, Ende Januar wird gewählt. Es ist nicht irgendeine Landtagswahl; die gesamte SPD liegt am Boden, sie kommt nicht mehr hoch.

Sie braucht einen Erfolg, und im Frühjahr wirkte es plötzlich, als könnte dieser Erfolg aus Hessen kommen. Die SPD lag dort in einer Umfrage bei 34, die CDU von Ministerpräsident Roland Koch bei 38 Prozent. Es sah gut aus für Andrea Ypsilanti, man sah sie jetzt als Hoffnungsträgerin.

Nicht mehr als linke Nervensäge wie unter Gerhard Schröder, dessen Agenda-Politik sie, obwohl belächelt, unablässig kritisiert hatte. Und nicht mehr als landespolitisches Leichtgewicht wie vor einem Jahr, als sie das innerparteiliche Rennen um die Spitzenkandidatur gewonnen hatte.

Gegenpol zu Koch

Die Wirklichkeit hinter den Zahlen war nicht mehr so wichtig. Ypsilanti sah gut aus, sie wirkte wie ein frischer Wind. Ihre Gegner vom rechten Flügel hielten still, die tief gespaltene Hessen-SPD schien geeint durch die Aussicht auf Erfolg. Das Kalkül der Parteilinken schien aufzugehen: Man nehme einen Gegenpol zum konservativen Koch, und die Wähler kommen zurück zur SPD.

Inzwischen sind die Zahlen nicht mehr so gut. Am Donnerstag ist eine neue Forsa-Umfrage herausgekommen, die CDU steht jetzt bei 43, die SPD bei 30 Prozent. Nicht einmal mit den Grünen und der Linken zusammen würde es demnach für die SPD zur Mehrheit reichen.

Da Ypsilanti eine Koalition mit der Linken aber ohnehin ausgeschlossen hat, scheint der Machtwechsel ziemlich weit weg zu sein. Auch das ist eine Momentaufnahme; nach der gleichen Umfrage wissen erst 18 Prozent der Bürger, dass sie Ende Januar wählen dürfen. Doch die Zahlen passen recht gut zum Stand der Dinge.

An diesem Samstag ist SPD-Landesparteitag. Die Delegierten werden Andrea Ypsilanti auf Listenplatz 1 wählen, doch es geht bereits um mehr. "Der Parteitag ist ihre letzte Chance, das große Bild eines sozialdemokratischen Hessens zu zeichnen", sagt einer aus der Parteispitze. Er gehört nicht zu ihren Gegnern.

Die entscheidende Frage ist aber, ob sie solch ein Bild überhaupt im Kopf hat.

Ein Freitagmorgen auf der Frankfurter IAA, der Leistungsschau der Automobilindustrie. Andrea Ypsilanti steht vor den Schautafeln eines Zulieferers, neben ihr doziert ein freundlicher Herr über Hybridantriebe. Das passt gut, es geht um Ressourcenschonung, um eine saubere Umwelt, es ist eines ihrer Themen. Sie lässt den Herrn reden, sie sieht ihn an, sie sagt kaum etwas. Zum Abschied sagt sie: "Forschen Sie schnell."

Andrea Ypsilanti hat ein paar klare Vorstellungen davon, was sich in dieser Gesellschaft verändern soll. Es geht um große Linien, nicht so sehr um Details.

Avantgarde-Politik

Es sind keine schlechten Vorstellungen, es ist sogar höchste Zeit für sie. Auch bei der Umsetzung sind ihr ein paar gute Treffer gelungen. Sie will Energie erzeugen ohne Atom- und ohne Kohlekraft, also hat sie den Bundestagsabgeordneten Hermann Scheer zum Schattenminister für Umwelt und Wirtschaft gemacht. Scheer ist Träger des alternativen Nobelpreis, er gilt als Solarpapst, als Fachmann.

Sie will ein gerechteres Bildungssystem, also hat sie Rainer Domisch zum Schattenminister für Bildung gemacht. Domisch ist allgemein anerkannter Experte für das finnische Bildungssystem, das bei der Pisa-Studie am besten abgeschnitten hat. Er will in Hessen die Gemeinschaftsschule etablieren, Kinder länger gemeinsam lernen lassen, jene frühe Auslese abstellen, an der das deutsche Bildungssystem krankt. Es gab viel Beifall für diese Personalie.

Die Ideen an sich sind nicht das Problem. Das Problem ist, dass es die einzigen Ideen sind, darüber hinaus ist bisher kaum etwas sichtbar. In der Forsa-Umfrage gaben 76 Prozent der Grünen-Anhänger an, sie würden sich im direkten Vergleich für Ypsilanti statt für Koch entscheiden. Bei den SPD-Anhängern waren es 59 Prozent, während ein Viertel von ihnen für Koch stimmen wollte.

Landespolitisch besteht das Angebot der Andrea Ypsilanti an den Wähler aus Avantgarde-Politik. Die Grünen können sich eine solche Politik leisten, weil sie nur die Avantgarde ansprechen wollen. Sie müssen keine verunsicherte Mittelschicht gewinnen, der es um die Sicherheit des Arbeitsplatzes geht und darum, ein bisschen etwas abzubekommen vom großen Kuchen.

Vielleicht nur Unsicherheit

Manchmal ist man nicht einmal sicher, ob Andrea Ypsilanti deren Stimmen überhaupt will. An einem Nachmittag ist sie in Frankfurt-Bornheim unterwegs, es gibt Cafés, Geschäfte, einen Markt. Es ist der ideale Platz, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Der SPD-Ortsvorsteher ist da, Leute vom Ortsverein, der örtliche Landtagskandidat. Sie gehen in ein paar Läden, sie sprechen Menschen an. Sie sagen, dass die Frau Ypsilanti Ministerpräsidentin werden wolle. Und die Frau Ypsilanti steht daneben. Manchmal fragt sie: "Und, wie läuft das Geschäft?"

Andrea Ypsilanti erzählt sehr oft, dass sie ein Arbeiterkind sei. Dass ihr Vater bei Opel in Rüsselsheim gearbeitet und sie sich hochgekämpft habe, von der Stewardess zur Spitzenkandidatin. Aber wenn sie vor den kleinen Leuten steht, von denen sie immer spricht, wirkt sie wie eine Vegetarierin, die den Leberkäse anschneiden soll. Weil es diesen Leuten um fehlende Parkplätze geht, um Obdachlose, die das Stadtbild stören. Es wirkt dann, als mache so viel Beschränktheit Andrea Ypsilanti sprachlos.

Aber vielleicht ist es auch nur Unsicherheit. Im Tabak- und Schreibwarengeschäft sitzt hinter der Theke ein Mann, der ganz offensichtlich nicht in Deutschland geboren, ist. Er sagt, dass er seit 25 Jahren in der SPD sei, außerdem Soziologe wie Ypsilanti und obendrein noch promoviert. Der Mann ist eine Steilvorlage. Man könnte mit ihm über Arbeitslosigkeit von Akademikern sprechen, über Integration von Migranten oder auch nur über die Soziologie an und für sich. Andrea Ypsilanti tut das nicht, sie sagt wieder kaum mehr als diesen Satz: "Und, läuft das Geschäft gut?"

Das Merkwürdige daran ist, dass sie bundespolitisch für jene kleinen Leute kämpft, mit denen ihr das Gespräch so schwer fällt. Ypsilanti ist Vorkämpferin für einen Mindestlohn, sie setzt sich für die Bahn-Volksaktie ein, sie will Hartz IV korrigieren. Eine kleine Gruppe von Vertrauten entwirft ihr die Konzepte, die sie im Gespräch mit Journalisten fehlerfrei aufsagen kann. Sie wirkt dabei sehr festgelegt, oft wiederholt sich sogar der Wortlaut.

Genau dies ist ihre Schwierigkeit: dass sie von der eingeübten Theorie nicht auf jene Ebene kommt, auf der sie Menschen in Frankfurt-Bornheim berühren könnte. Es fehlt die Brücke zu dieser Ebene, weil die Theorie nur aus großen Linien besteht, die keinen Platz mehr lassen für profane Dinge wie Straßenbau oder die Sorgen von Kleinunternehmern.

Die Linien sind deshalb so groß, weil sie nicht nur für den Wähler gedacht, sondern gleichzeitig Teil eines innerparteilichen Projekts sind. Es geht dem Kreis um Ypsilanti auch darum, die Koordinaten einer Sozialdemokratie zu verschieben, die sich unter Gerhard Schröder in die ihrer Ansicht nach falsche Richtung aufgemacht hat. Ypsilanti soll das nach außen repräsentieren: weiblich, ansprechend, menschlich. Norbert Schmitt, Generalsekretär der Hessen-SPD, sagt es so: "Andrea Ypsilanti steht für einen neuen Politikstil." Für Überzeugungen statt Karrierepolitik.

Sie hat diese Überzeugungen ja wirklich, und es gibt Momente, in denen das besonders klar wird. Als sie ihren Schatten-Bildungsminister Domisch vorstellt, spricht sie über ihre Vorstellung von der Bildung der Zukunft. Es klingt nach Aufbruch, sie hat den Saal auf ihrer Seite. Sie muss in diesem Saal allerdings niemanden mehr überzeugen, sie spricht vor einem Bildungskongress der Hessen-SPD. Sie spricht vor einem Teil ihres Projekts in der Sprache des Projekts.

Von diesem Samstag an wird es ernst für Andrea Ypsilanti. Laut interner Strategie beginnt dann die nächste Phase des Wahlkampfs. Sie hat noch vier Monate Zeit, aus ihrem persönlichen Projekt ein Projekt für das Bundesland Hessen zu machen. Irgendwann in dieser Zeit wird auch Roland Koch mit dem Wahlkampf beginnen. Er hat am Donnerstagmorgen im hessischen Landtag ebenfalls zum Flughafenausbau geredet. Auf dem Rednerpult lagen keine Karteikarten.

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