Süddeutsche Zeitung

Analyse zum Mitgliederschwund der Parteien:Grüne überholen Liberale

Halbe Ortsgruppen treten aus, die FDP schrumpft. Den meisten anderen Parteien ergeht es ähnlich. In einer Partei zu sein, ist für die Deutschen nicht mehr attraktiv. Experten glauben, dieser Trend ist nicht zu stoppen - und dennoch gibt es ein Gegenbeispiel.

Das Umfragetief der FDP wird offenbar von einem massiven Mitgliederschwund in der Partei begleitet. Zum Jahreswechsel werde die Partei wahrscheinlich erstmals weniger Beitragszahler als die Grünen haben, meldete die Frankfurter Rundschau. Die FDP schrumpfte dem Bericht zufolge bereits bis zum 30. Juni um knapp 3000 auf 60.181 Mitglieder. Da sich der Negativtrend seitdem in mehreren Bundesländern fortsetzte, werde innerhalb der Liberalen damit gerechnet, zum Jahreswechsel von den Grünen überholt zu werden, schreibt die Zeitung. Die einstige Öko-Partei hatte Mitte Dezember knapp 60.000 Mitglieder.

Der Berliner Parteienforscher Oskar Niedermayer rechnet nicht mit einer raschen Trendwende für die Liberalen. "Niemand will zu den Verlierern gehören", sagte er dem Blatt. Helfen könne aber ein Wechsel an der Parteispitze: "Die Bürger nehmen Philipp Rösler als Politiker nicht ernst." Ob eine Ablösung Röslers nach einer Niederlage bei der Landtagswahl in Niedersachsen im Januar noch ausreiche, um die Stimmung zu drehen, sei allerdings fraglich.

Ein Sprecher der Liberalen kündigte an, die Partei werde die Zahlen für die Mitgliederentwicklung im Jahr 2012 im Januar veröffentlichen. Man warte noch die Zahlen aus den Landesverbänden ab. "Erkenntnisse, dass es deutliche Mitgliedergewinne gegeben hat, liegen uns nicht vor", sagte der Parteisprecher der Frankfurter Rundschau. In Brandenburg seien beispielsweise halbe Ortsgruppen aus der FDP ausgetreten, gleichzeitig habe es aber auch Neugründungen gegeben.

2011 hatte die FDP laut einer Umfrage der Zeitung mehr als 5000 Mitglieder verloren. Bei den Grünen dagegen nahm die Mitgliederzahl der Parteisprecherin zufolge kontinuierlich zu. Ende 2011 hatte sie 59.074 Mitglieder gezählt. Mit Ausnahme der Grünen haben dem Zeitungsartikel zufolge 2012 alle Bundestagsparteien Mitglieder verloren, am deutlichsten die SPD - knapp 12.000 im Vergleich zum Vorjahr. Nachdem sie die CDU zur Jahresmitte vorübergehend als mitgliederstärkste Partei überholt hatte, liegt die SPD nach den aktuellsten Zahlen nun wieder auf Platz zwei. Ende November zählte sie 477.803 Mitglieder (2011: 489.638). Die CDU kam auf 478.810 (2011: 489.896). Recht stabil mit nur leichten Verlusten präsentiert sich die CSU mit rund 150.000 (2011: 150.585). Dann kommt die Linke mit 65.000 (2011: 69.458).

Gesellschaftlicher Wandel als Ursache

"Der Mitgliederschwund ist nicht nur auf eine einzige Ursache zurückzuführen", erklärte Niedermayer. Dahinter stecke auch ein längerfristiger Wandel der Gesellschaft. Bis in die 1960er Jahre hinein habe es noch soziale Milieus - zum Beispiel Arbeiter oder Katholiken - gegeben. Eine Bindung, die auch einen Eintritt in eine dazu passende Partei nahelegte. "Heute haben wir eine individualisierte Gesellschaft", sagte der Politologe. Die Zeiten, in denen eine Partei wie die SPD eine Million Mitglieder hatte, seien unwiederbringlich vorbei. Parteien müssten sich also darauf einstellen, mit weniger Mitgliedern auszukommen. "Trotzdem müssen sie versuchen, sie zu halten. Mitglieder sind das Standbein. Ohne sie verlieren Parteien ihre Verankerung in der Gesellschaft."

Im anhaltenden Mitgliederschwund bei fast allen Bundestagsparteien sieht Niedermayer allerdings kein Zeichen von Politikverdrossenheit. "Es gibt heute viel mehr Möglichkeiten als früher, sich politisch zu engagieren", sagte der Parteienforscher an der Freien Universität Berlin. Dem stünden aber nicht mehr Menschen gegenüber, die sich engagierten. "Viele Organisationen buhlen um dieselben Leute, darunter die Parteien."

Junge Leute seien heute nicht politikmüde, sie mieden eher feste Organisationsstrukturen. "Wer die Welt verbessern möchte, will im Ortsverband nicht mit Leuten über 50 über die Abwasserzweckverbandsabgabe diskutieren." Die Jugend suche andere Stile: etwas, das kurzfristig greife, Spaß mache und ein sichtbares Ergebnis bringe. "Die Piraten zeigen, dass es möglich ist, junge Leute mit dem Thema Internet zu begeistern", sagte Niedermayer. 20.000 stimmberechtigte Mitglieder haben die Piraten im Moment - allerdings bei nachlassender Begeisterung.

Große etablierte Parteien könnten ihren Mitgliederschwund vielleicht stoppen, wenn sie mehr Schnupperangebote und projektbezogenes Mitarbeiten möglich machten, regte Niedermayer an. Richtig schlechte Karten hätten zur Zeit nur Parteien wie die FDP. "Leute gehen nicht in eine Partei, die dauernd in Negativschlagzeilen ist", sagte der Forscher. Umgekehrt funktioniere es bei den Grünen: Besonders seit Fukushima könnten sie mit ihrem Kernthema Atompolitik punkten - und neue Mitglieder anlocken.

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