Analyse der Wahl in Hessen:Quittung statt Leistung

Der Chef des Emnid-Instituts, Klaus-Peter Schöppner, hat das Ergebnis der Landtagswahl in Hessen analysiert. Sein Fazit: Sachpolitik spielt heute kaum mehr eine Rolle. Wichtig ist das Gefühl der Wähler.

Der Chef des Bielefelder Emnid-Instituts, Klaus-Peter Schöppner, hat das Ergebnis der Landtagswahl in Hessen analysiert.

Analyse der Wahl in Hessen: Blumen von Kanzlerin Merkel: Roland Koch bleibt Ministerpräsident in Hessen - weil bei der Wahl die harten von den weichen Kriterien vertrieben wurden.

Blumen von Kanzlerin Merkel: Roland Koch bleibt Ministerpräsident in Hessen - weil bei der Wahl die harten von den weichen Kriterien vertrieben wurden.

(Foto: Foto: ddp)

Die Hessen haben beim Start ins Superwahljahr 2009 nur scheinbar die Politik in Hessen gewählt. Natürlich spielten auch die Polarisierungsqualitäten eines Roland Koch eine Rolle, ebenso wie die Konzeptlosigkeit der SPD, wie Frustwähler zugunsten der Linken, Regierungssicherheit durch die FDP und das hohe Ansehen des Grünen Tarek Al-Wazir.

Tatsächlich jedoch ist die Hessenwahl Ausdruck eines neuen, völlig veränderten Wahlverhaltens der Deutschen: Roland Koch ist nicht wie zum Beispiel 2003 wegen seiner hohen Wirtschafts- und Arbeitsmarktkompetenz, die eigentlich in Krisenzeiten besonders geschätzt wird, zum Ministerpräsidenten gewählt worden, sondern weil die Wahl fast ausschließlich dazu diente, die hessische SPD für ihren Wendehalskurs zum Zwecke der Macht zu bestrafen.

Im Klartext: Waren jahrzehntelang Kompetenz in Wirtschafts- und Arbeitsmarkt die Erfolgstreiber, so sind wie schon vor 100 Tagen in Bayern diese "harten" Kriterien durch "weiche" wie Zuverlässigkeit, Vertrauen, Ehrlichkeit und Bürgerwohl abgelöst worden. Nur noch knapp mehr als jeder zweite Hesse hat am Sonntag die Partei seiner Überzeugung, mehr als 40 Prozent dagegen aus Enttäuschung eine andere als im Normalfall gewählt. Der "Y-Faktor" hat das Wahlverhalten - nicht nur in Hessen, sondern auch bundesweit - stark verändert. Aus "Pro-Wahlen" werden immer häufiger "Contra-Wahlen".

Das Hessen-Paradoxon: Ausgerechnet die Kriterien, die Ypsilanti 2008 zum Wahlsieg über Koch verhalfen, haben der SPD diesmal die höchste Wahlniederlage in Hessen beschert. Dagegen wirkte Koch längst nicht mehr als der Spalter, Stratege und kühle Berechner früherer Zeiten. Er bekam nur "ein bisschen" einen Denkzettel, weil viele CDU-Abtrünnige zum bereits vorher feststehenden Koalitionspartner FDP wechselten.

Hessen hat den schon in Bayern wirksam gewordenen Paradigmenwechsel beim Wahlentscheid bestätigt: Nicht mehr Ökonomie, sondern Psychologie wird gewählt. Nicht Kompetenz, sondern Konzilianz. Nicht Sachpolitik, sondern Vertrauen. Kein Politiker hat gegen diese Regel deutlicher verstoßen als Andrea Ypsilanti. Quittung statt Leistung war in Hessen das herausragende Wahlmotiv.

Da bedurfte es kaum mehr eines Wahlkampfes: Hessen zeigte, dass Kampagnen, überbordende Plakatierung, hektische Spin-Doktor-Aktivitäten, Kandidatenduelle sowie erbitterte Meinungsforschungsschlachten überflüssig werden, wenn der Urnengang so eindeutig von einem gefühlten Thema beherrscht wird. Wahlen, die vergangenen in Hessen und Bayern zeigten das deutlich, werden stärker zu "Quittungswahlen".

Da ist jede Kampagne zwecklos, weil die Wähler erst dann wieder zu ehrlicher Auseinandersetzung um Sachthemen bereit sind, wenn die "Schurken" ihre "gerechte Strafe" bekommen haben. Das war bei Roland Koch vor einem Jahr so, vor vier Monaten bei der arrogant abgehobenen CSU, nun bei der SPD im Ypsilanti-Syndrom nicht anders. Wobei der würdelose Umgang mit den SPD-Rebellen genauso entscheidend war wie die Linksvolte.

Spätestens nach dem "Outing" der vier "SPD-Rebellen" hatte die SPD nur noch eine Minimalchance: Die eines vorbedingungslosen, unwiderruflichen Rücktritts Andrea Ypsilantis von allen politischen Ämtern. So aber verstärkte der verzweifelte "Wo-bleib-ich"-Kampf der Spitzen-Genossin das "So nicht" als herausragendes Wahlmotiv. Erst recht, als die SPD in Umfragen auf 25 Prozent gefallen war und immer noch keine Reaktionen zeigte.

Hessen spürte, dass "links" längst nicht mehr die Mehrheit besaß, dass es beim ungeschickten Taktieren der SPD nur noch um Macht, längst nicht mehr um Wählerinteressen ging. Nichts wirkt sich verheerender aus als der Eindruck, eigener Machtgewinn und Parteiinteresse ständen über dem Bürgerwohl. Dass Unaufrichtigkeit und Wählerinstrumentalisation, noch vor einem Jahr für Kochs Wahldesaster verantwortlich, nun plötzlich zum Grund der höchsten SPD-Niederlage in Hessen wurde, ist der Treppenwitz der hessischen Wahlgeschichte.

Da Wähler Politik immer relativ ("kleinere Übel") bewerten, punktete Roland Koch selbst in Zeiten einer Weltwirtschaftskrise weniger mit seiner unzweifelhaften Wirtschaftskompetenz. Der für viele geläuterte, sich zurücknehmende, plötzliche Bürgerversteher Koch galt im Vergleich zu Ypsilanti auf einmal als der vertrauensvollere Politiker, auch wenn viele Hessen sich fragten, welcher Koch denn nun der richtige sei. Mit seinem: "Ich habe verstanden!", ist Koch wieder auferstanden.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wieso Glück, Geduld und Läuterung zur rechten Zeit Koch gerade noch retteten.

Quittung statt Leistung

Immerhin sind sich die meisten Hessen sicher: Mit dem Geläuterten wird es keine Studiengebühren mehr geben, werden erneuerbare Energien stärker gefördert, G8 sanfter verwirklicht. Aus dem "Kopf-durch-die-Wand"- ist der kompetente Zeitgeist-Politiker Roland Koch geworden. Bis zum Wiedergewinn seiner Glaubwürdigkeit ist es dennoch ein weiter Weg. Noch polarisiert Hessens Ministerpräsident wie kaum ein Zweiter.

Doch auch seine Partei hatte großen Anteil an den nun klaren hessischen Verhältnissen: Nie wirkte eine Partei in Zeiten höchster Not geschlossener als die hessische CDU, nie war ein großer Wahlverlierer besser aufgehoben in seiner Partei. Glück, Geduld und Läuterung zur rechten Zeit ließen Koch gerade noch rechtzeitig die Kurve kriegen.

Größter Fehler der Sozialdemokraten war es, sich nicht brutalst- und schnellstmöglich von Wortbrecherin Ypsilanti zu trennen: Fast drei von vier Wählern Hessens hielten die SPD nicht mehr für vertrauenswürdig. Ihr Ruck nach links wurde nicht mit landespolitischer Verantwortung, sondern mit persönlichem Machtstreben in Verbindung gebracht. Der Verlust von 40 Prozent ihrer Wähler nach ihrer Linksvolte hätte der SPD zeigen müssen, wie stark ihre Anhänger ein klares "Wir haben verstanden!" erwartet hatten. So aber wurde ihr "Machtstreben" zur unüberwindbaren Hypothek. Ypsilantis Argument: "Aus Verantwortung und Pflichtgefühl", wie auf dem Landesparteitag verkündet, führte zum endgültigen Desaster.

Das nur durch eine glückliche Fügung nicht "brutalstmöglich" ausfiel: Zur SPD-Stärke wurde ausgerechnet ein Politiker, dem man das am allerwenigsten zugetraut hatte. Der politisch eher unbedarfte Thorsten Schäfer-Gümbel. Als Komparse angetreten, wurde der neue SPD-Frontrunner fast über Nacht zum Kult: Selbstironie, Schlagfertigkeit, Mut, Fleiß, Bedächtigkeit, sein sich in aussichtsloser Situation selbstlos in den Dienst der Partei stellen, verlieh TSG einen seltsamen Status zwischen Bedauern und Mut, mit dem er es in nur zwei Monaten immerhin zu einem Bekanntheitsgrad von 60 Prozent schaffte.

Schäfer-Gümbel hielt sich sogar in der "MP-Frage" wacker gegen den Politprofi und langjährigen Ministerpräsidenten Koch, den die Hessen zuletzt nur noch mit einem Vorsprung von zwölf Prozentpunkten lieber als hessischen Ministerpräsidenten haben wollten. Im Ansehen rangierten Koch und TSG vor der Wahl bereits gleichauf. Trotz 23,7 Prozent wird er mehr als nur eine Episode der hessischen SPD-Geschichte bleiben.

Lesen Sie auf der letzten Seite, wer die großen Gewinner der Wahl sind.

Quittung statt Leistung

Eindeutige Profiteure waren zwei Kleine: Den Grünen gelang es immerhin, sich aus der Umklammerung der SPD zu lösen. Zu Hilfe kam ihnen, dass der selbsternannte Solarexperte Hermann Scheer, der als SPD-Wirtschaftsminister die Energiewende einleiten wollte und 2008 unter den grünen Kernwählern wilderte, nun keine Rolle mehr spielte.

Im Gegenteil: Die Grünen, insbesondere ihr Spitzenkandidat Tarek Al-Wazir, Hessens beliebtester Politiker, inszenierten sich als Partei der Vernunft: Sie handelten pragmatische Kompromisse in der Schulpolitik aus, schafften die Studiengebühren ab, und brachten sogar gemeinsam mit der CDU einen Gesetzesentwurf zur Beamtenbesoldung auf den Weg: Und machten damit ihre Linie deutlich: "Auf die Inhalte kommt es an!"

Dennoch ist etwa jeder dritte ihrer jetzigen 13,7 Prozent Wähler im Grunde ein Sozialdemokrat, der seine Stimme erst mal "auf Grund" geparkt hat. Wie nichts anderes beweist das sensationell gute Abschneiden der FDP den neuen Politruck: Die Liberalen holten 16,2 Prozent nicht mit inhaltlichen Themen oder kompetenten Politikern. Sie gewannen mit Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und Worthalten. Nie wurde die FDP mehr geherzt als für ihr klares Nein zu Ypsilantis Liebesbemühungen.

Nie erhielt Spitzenkandidat Jörg-Uwe Hahn über Monate hinweg begeisterteren Zuspruch als bei seiner Koalitionsverweigerung mit Rot-Grün. Zum zweiten Mal rettete Hahn nach der Schwarzgeldaffäre Kochs politisches Überleben. Das wird sich die FDP nun einiges kosten lassen. Die FDP hat nun die Chance, sich auch in anderen Ländern und im Bund als "Garant der Stabilität" zu profilieren. Motto "Nie mit den Linken - immer aber mit einer starken FDP" gibt es stabile Verhältnisse.

Zweiter großer Wahlverlierer war die Linke: Dass sie bei einem SPD-Verlust von über einem Drittel ihrer Stimmen, nichts dazugewinnt, zeigt, wie ihr Stern schon wieder verblasst. Innerparteiliche Streitereien bis hin zur Handgreiflichkeit und der Parteiaustritt des kurzzeitigen Spitzenkandidaten Pit Metz zeigten den Wählern, dass die Linke noch ein bisschen Demokratie üben muss. Zudem verkehrte sich der Bundestrend gegen sie: Bundesweit fiel die Linke von 15 auf elf Prozent zurück.

Auch in Hessen wurde deutlich, dass schwere Zeiten eher Konzepte statt Klamauk erfordern. Mit immer demselben Maulen und ständig erneuerten Forderungen nach Verstaatlichungen fängt sie an, die Wähler zu langweilen. Zudem fiel auch in Hessen auf, dass die Linke zwar Lafontaine und Gysi, in Hessen personell hingegen nichts zu bieten hat.

So zeigt Hessen den Weg ins Superwahljahr 2009: Psychologie statt Ökonomie wird zum wahlentscheidenden Faktor. Und: Roland Koch wird ein Hesse bleiben. Seinem Ziel, die Nummer zwei der CDU zu werden, ist er seit Sonntag weit entrückt.

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