Süddeutsche Zeitung

Analphabetismus:Wenn der einfachste Text ein Rätsel bleibt

Mehr als sechs Millionen Menschen in Deutschland tun sich schwer mit Lesen und Schreiben. Doch es werden weniger.

Von Susanne Klein

Bäcker, Pflaster, Auffahrt, Urlaub. Keine schwierigen Wörter eigentlich, aber rund 6,2 Millionen Deutsch sprechende Erwachsene haben Probleme damit, sie fehlerfrei aufzuschreiben. Das geht aus einer repräsentativen Studie mit 7200 Befragten im Alter von 18 bis 64 Jahren hervor, die am Dienstag im Bundesbildungsministerium in Berlin veröffentlicht wurde. Auch mit dem Lesen und Verstehen kurzer Texte tut sich dieser große Teil der Bevölkerung schwer. Laut Studie können die Betroffenen allenfalls einzelne einfache Sätze lesen und schreiben. Eine simple schriftliche Arbeitsanweisung, die Dosierungsanleitung im Beipackzettel eines Medikaments werden angesichts solcher Defizite schnell zu unüberwindbaren Hürden.

Doch die Studie "Leo - Leben mit geringer Literalität" der Universität Hamburg enthält auch gute Nachrichten. Als sie 2010 zum ersten Mal durchgeführt wurde, waren es noch 7,5 Millionen Menschen, also 1,3 Millionen mehr, die so schlecht lesen und schreiben konnten, dass sie selbst an einfachen deutschen Texten scheiterten. Damit ist die "geringe Literalität", wie Studienleiterin Anke Grotlüschen es nennt, weil der Begriff des Analphabetismus auf diese Menschen nicht passt, von 14,5 auf 12,1 Prozent sämtlicher Deutsch sprechenden Erwachsenen gesunken - um fast ein Fünftel. Den mit Abstand kleinsten Anteil in dieser Gruppe machen junge Erwachsene unter 25 aus.

43 Prozent der Migranten haben Schwierigkeiten, sich schriftlich auf Deutsch auszudrücken

Die positive Entwicklung erklärt die Professorin für Lebenslanges Lernen mit einer verbesserten Schulqualität. Früher hätten die Schulen "mehr Schüler in die Welt entlassen, die nicht richtig schreiben und lesen konnten". Aber immer noch haben drei Viertel der Betroffenen als junge Menschen eine Schule absolviert, am häufigsten eine Hauptschule, ohne dort das nötigste Rüstzeug erlangt zu haben. Die übrigen besitzen keinen Schulabschluss.

Bei diesen 6,2 Millionen, fast 60 Prozent von ihnen sind Männer, liegen die Lese- und Schreibkompetenzen auf einem der drei untersten Niveaus der Grundbildung. Das reiche nicht aus zur vollen Teilhabe am beruflichen und gesellschaftlichen Leben, so Grotlüschen. Zwar seien die Betroffenen mehrheitlich erwerbstätig, meist jedoch als Geringverdiener. "Jeder zweite ist finanziell nicht in der Lage, eine Woche Urlaub außerhalb der eigenen Wohnung zu machen", erklärt die Forscherin. Zwei Drittel hätten zudem große Schwierigkeiten, politische Fragen zu verstehen und einzuschätzen. Und das, obwohl jeder Vierte angibt, täglich Zeitung zu lesen, gedruckt oder im Internet. "Es gibt immer einige, die trotz ihrer Probleme beim Lesen diese Angabe machen", erklärt Grotlüschen. Was man als Zeitungslektüre definiere, sei Auffassungssache.

Ein starker Zusammenhang besteht zwischen Lese- und Schreibvermögen und Herkunftssprache. Von den Befragten mit Migrationshintergrund, die Deutsch nicht zuerst gelernt haben, zeigen 43 Prozent die genannten Defizite. In ihrer Muttersprache könnten sie aber sehr wohl anspruchsvolle Texte lesen und schreiben, geben die meisten in dieser Gruppe an. Menschen mit Flüchtlingsstatus nahmen nicht an der Studie teil. Von den Befragten mit deutscher Muttersprache haben sieben Prozent Probleme. Insgesamt jedoch machen sie 53 Prozent der Betroffenen aus.

Wer schlecht lesen und schreiben kann, dem bereitet die Digitalisierung besondere Probleme, haben die Verfasser der Studie herausgefunden. Diese Menschen benutzten deutlich seltener einen Computer mit Internetzugang und schreiben nur selten E-Mails, sagt Grotlüschen; digitale Medien machten es ihnen "entschieden schwerer, im Leben klarzukommen". Ein Überweisungsformular etwa sei online schwieriger auszufüllen als auf Papier, weil man tippen und mit einem Computer oder einer App umgehen können muss. Eine gute Möglichkeit zur Teilhabe bieten aber die sozialen Medien mit ihren Sprachnachrichten und Kurzbotschaften, die der Logik des gesprochenen Wortes folgen. Schreib- und Grammatikfehler fallen hier nicht so ins Gewicht.

Die Resultate der vom Bundesbildungsministerium geförderten Studie will Grotlüschen als Aufforderung an die Politik verstanden wissen. Lernen sei im Lebensverlauf nicht mit dem Schulabschluss beendet, auch nicht bei der Grundbildung, wie die Untersuchung zeige. Deswegen müsse mehr in entsprechende Weiterbildungsangebote investiert werden. "Aber die öffentliche Finanzierung von Weiterbildung stagniert seit 20 Jahren", kritisiert die Professorin. Immerhin haben Bund und Länder, um die Lese- und Schreibfähigkeiten bei Erwachsenen zu verbessern, 2016 die "Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung" ausgerufen. Aber bis 2026 bleibt noch viel zu tun: Laut Studie haben gerade einmal 0,7 Prozent der Betroffenen in den zwölf Monaten vor der Befragung an einem Alphabetisierungskurs teilgenommen. Zufriedenstellen kann diese Quote niemanden.

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SZ vom 08.05.2019
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