Der Rauswurf von FDP-Chef Christian Lindner als Bundesfinanzminister ist keine zwei Stunden alt, als er am Mittwochabend kurz nach 22 Uhr den Fraktionssaal der Freien Demokraten im Reichstagsgebäude betritt. Klatschen ist zu hören, bis die schwere Tür zufällt. Eine gute Stunde später bemüht sich Fraktionschef Christian Dürr, ein Bild der Geschlossenheit zu zeichnen: „Ich darf Ihnen mitteilen, dass die Entscheidung des FDP-Parteivorsitzenden, auf die Forderung des Bundeskanzlers, die Schuldenbremse in Deutschland auszusetzen, nicht einzugehen, von der FDP-Bundestagsfraktion einstimmig unterstützt wird“, hebt Dürr an. „Es gab dazu eben auch stehenden Beifall in der FDP-Fraktionssitzung.“
Und dann fügt er hinzu, die weiteren FDP-Minister hätten „erklärt, dass sie gegenüber dem Bundespräsidenten und dem Bundeskanzler ihren Rücktritt einreichen werden“. Zu diesem Zeitpunkt allerdings macht auf der Fraktionsebene im Reichstagsgebäude schon das Gerücht die Runde, dass nicht alle Minister bei der FDP gehen wollen: Bundesverkehrsminister Volker Wissing, so heißt es aus den anderen Ampelfraktionen, werde womöglich weitermachen. Dürr wird danach gefragt. Er habe darüber „keine Kenntnis“, sagt er. Die FDP-Minister würden ihren Rücktritt einreichen. „Das ist auch das, was vorhin im Koalitionsausschuss angekündigt worden ist.“
Die Tatsache, dass Wissings Unterschrift fehlt auf der Teilnehmerliste der Fraktionssitzung, wird den Abgeordneten damit erklärt, dass der Minister einen privaten Termin habe. Unplausibel klingt das erst einmal nicht, denn die totale Eskalation im Koalitionsausschuss hatten sie bei den Liberalen so wohl bis zum Nachmittag auch nicht kommen sehen. Aber auch bei SPD und Grünen ist man sich jetzt nicht mehr so ganz sicher, ob Wissing in der Regierung bleibt und mit der FDP bricht.
Einen Rückzug aus der Koalition hält Wissing für „respektlos“
Vielleicht war er selbst sich noch nicht sicher, er habe sich Bedenkzeit ausgebeten, heißt es. Doch am Donnerstagmorgen klärt Wissing die Dinge auf seine Weise. Eilig hat sein Ministerium zu einem Statement geladen, um 8.45 Uhr tritt er ans Pult. „Ich habe vergangene Woche meine Position zur Verantwortung in einer Regierungskoalition in einem Beitrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung öffentlich gemacht, damit alle meine Position in dieser wichtigen Frage kennen“, sagt Wissing. Ein Rückzug aus der Koalition wäre „respektlos“ vor „dem Souverän“, hatte er da argumentiert.
Nach dem Koalitionsausschuss habe der Kanzler ihn in einem persönlichen Gespräch gefragt, ob er bereit sei, „das Amt des Bundesministers für Digitales und Verkehr unter den neuen Bedingungen fortzuführen. Ich habe darüber nachgedacht und dies gegenüber Herrn Bundeskanzler Scholz bejaht“. Zugleich wolle er „mit dieser Entscheidung keine Belastung für meine Partei sein und habe deshalb heute Herrn Christian Lindner meinen Austritt aus der FDP mitgeteilt“.
Es ist der härtest mögliche Bruch zwischen Wissing und der Partei, aber auch zwischen ihm und Lindner. Die beiden haben zusammen den Wahlkampf organisiert, der die FDP in die Ampel führte. Wissing war Generalsekretär der Liberalen und neben Lindner der gelbe Teil auf dem berühmten Citrus-Selfie mit den Grünen Annalena Baerbock und Robert Habeck.
Anzeichen für eine zunehmende Entfremdung gab es seit Monaten
Die Ampel, sagt Wissing am Donnerstagmorgen, hätte „mehr Chancen gehabt, wenn man von Anfang an gemeinsamer und stärker an ihrem Erfolg gearbeitet hätte“. Er sei mit vielen Dingen nicht einverstanden gewesen, insbesondere nicht mit der Art und Weise, wie man „kontroverse Positionen öffentlich ausgetragen hat, anstatt Brücken zueinander zu bauen“ – eine Breitseite gegen den Politikstil Lindners in der Koalition. Anzeichen für eine zunehmende Entfremdung zwischen den beiden gab es seit Monaten schon. Parteichef Lindner wird über Wissing am Donnerstagmittag öffentlich lediglich sagen, er wünsche ihm „persönlich und menschlich jedenfalls alles Gute“.
Bei SPD und Grünen wundert viele Wissings Entscheidung nicht. Er hat viele von ihnen zwar immer mal mit seiner Prinzipientreue genervt, sich gleichzeitig aber auch den Ruf von großer Verlässlichkeit erarbeitet. Schon beim entscheidenden Treffen im Kanzleramt am Mittwochabend sei spürbar gewesen, dass er mit dem Platzen des Bündnisses hadere, sagen Teilnehmer.
Talkshows:Scherbengericht über die zerbrochene Koalition
Bei Illner, Lanz und Maischberger ziehen Beteiligte und Unbeteiligte des Ampel-Aus Bilanz. Kurz wird es spannend: bei den Details des neuesten Social-Media-Videos von Vizekanzler Habeck.
Selbst Grüne, die manche Auto-Entscheidung des FDP-Mannes kritisch sehen, loben jetzt, dass er in der Regierung bleibt. Als den unverbesserlichen Autominister, zu dem ihn Umweltgruppen machten, sehen Spitzengrüne ihn nicht. Wissing selbst macht sich wenig aus großen Limousinen. Seine Familie fuhr Jahr für Jahr mit dem Familien-Golf in die Provence, immer an denselben Ort. Für ihn sei ein Auto kein Statussymbol, sondern ein praktischer Gegenstand, sagte der Minister einmal.
Seine drei Staatssekretäre teilen kühl mit, sie hätten „kein Vertrauen mehr“
Geprägt hat Wissing nicht nur seine rheinland-pfälzische bodenständige Heimat. Wissing wuchs in einer calvinistischen Familie auf. Sein Vater predigte sonntags in der Kirche. Eigentlich mussten die Kinder gar nicht mit. Gerade das aber habe ihn neugierig gemacht, erinnert sich Wissing. Als er älter war, sei er immer wieder zu Predigten seines Vaters gegangen – freiwillig. Im Zentrum des Calvinismus steht die Lehre von Vorbestimmtheit in Gegenwart und Zukunft. Das habe ihm große Gelassenheit vermittelt.
Jetzt folgt Wissing lieber Scholz als Lindner. Der ehemalige Richter wird sogar auch noch Justizminister in der rot-grünen Minderheitsregierung – eine zentrale Aufgabe in dieser heiklen Lage. Wie einsam Wissings Entscheidung war, zeigt auch, dass seine drei parlamentarischen Staatssekretäre zurücktreten. Sie hätten „kein Vertrauen mehr“ in ihn, teilen sie kühl mit.
Dass es weitere Überläufer aus dem Führungszirkel gibt, schließt jemand aus, der diesem Kreis angehört. Würden einzelne Abgeordnete zu Rot-Grün wechseln oder mit ihnen stimmen, hätte Scholz trotzdem keine Mehrheit im Bundestag. Dafür müssten 43 der 91 FDP-Abgeordneten die Seiten wechseln. Das gilt nach dem Applaus für Lindner Mittwochnacht als ausgeschlossen.