Koalitionsverhandlungen:Schaulaufen bei der Gewerkschaft

Gewerkschaftskongress der IG BCE in Hannover

"Herzliche Einladung, diesen mutigen Schritt gemeinsam zu gehen": Annalena Baerbock wirbt bei der Industriegewerkschaft für den früheren Kohleausstieg.

(Foto: Hauke-Christian Dittrich/dpa)

Wie die Ampel-Sondierer Scholz, Baerbock und Lindner versuchen, Arbeitnehmervertretern die geplanten Zumutungen als Chancen zu verkaufen.

Von Roland Preuß und Henrike Roßbach, Berlin

Erst mal die Glückwünsche. "Ein großartiges Wahlergebnis", sagt Olaf Scholz zu Michael Vassiliadis, der kurz zuvor von seinen Leuten mit 97,4 Prozent der Stimmen als Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie bestätigt worden ist. "Wir sind ja noch bei den Koalitionsverhandlungen", fügt er hinzu und meint mit "wir" die potenziellen Ampel-Koalitionäre, die just am Mittwoch in ihren 22 Arbeitsgruppen mit den Koalitionsverhandlungen begonnen haben. "Gewählt wird im Dezember, wenn alles läuft, wie wir es uns vorgenommen haben", schiebt er dann noch hinterher, und dieses Mal meint er die Kanzlerwahl, also sich selbst, wenn alles läuft, wie er es sich vorgenommen hat.

Es ist üblich, dass Politiker auf Gewerkschaftskongressen reden. Doch an diesem Mittwoch treten nach Scholz auch noch Annalena Baerbock (Grüne) und Christian Lindner (FDP) auf, wodurch die Ampel, über die derzeit in Berlin verhandelt wird, quasi einen gemeinsamen Gig hat. Und weil das Schweigegelübde für die rot-grün-gelben Verhandlungen bislang eingehalten wird, ist es interessant, was die drei sagen, wenn sie was sagen müssen.

Hinzu kommt: Vassiliadis und die etwa 600 000 Mitglieder der Industriegewerkschaft sind kein ganz einfaches Publikum für die Ampel-Leute. Ihr Sondierungspapier verlangt den meisten von ihnen heftige Anpassungen ab, manche würden sagen: Zumutungen. Bergbau, Chemie und Energie sind das Revier der Gewerkschaft, alles Branchen, die auf dem Weg zur angestrebten Klimaneutralität entweder auf der Strecke bleiben werden wie der Kohlebergbau. Oder die ihre Prozesse ziemlich werden ummodeln müssen, wie etwa die großen Stromerzeuger und die Chemie-Unternehmen.

Bei Scholz aber verwandeln sich derlei Zumutungen in Zukunftsperspektiven, in einen Plan, vor dem keiner Angst haben soll. Der nötige Umbau? "Das geht nur mit den Gewerkschaften zusammen." Die steigenden Kosten für Energie? Könne man bewältigen. Die Arbeitsplätze? Deutschland könne "ein führendes Land in der industriellen Welt der Zukunft" werden. Schnell soll es gehen, sehr schnell, verspricht Scholz. Die neue Regierung werde "noch im ersten Jahr" alle Weichen stellen, "damit Deutschland nicht eine Stromlücke hat, damit Deutschland genug Strom hat für eine Industrie der Zukunft". Ende kommenden Jahres gehe das letzte Atomkraftwerk vom Netz, also müsse man nun besonders Tempo machen, damit die Industrie den Strom bekomme, den sie brauche.

Die Grünen gelten hier als Arbeitsplatz-Bedrohung

Während für Scholz ein Gewerkschaftstag selbst mit einem Ampel-Sondierungspapier in der Ledertasche immer Heimspielcharakter haben wird, schließlich ist er Sozialdemokrat, hat es Annalena Baerbock schon etwas schwerer. Die Grünen nimmt man in der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) traditionell als Bedrohung für die eigenen Arbeitsplätze wahr. Auch am Mittwoch machte Vassiliadis daraus bei der Begrüßung von Baerbock keinen Hehl. Die aber setzt auf Versöhnung, will nicht nur "Gräben zuschütten", sondern gar "Brücken bauen", voneinander lernen, den Wohlstand und den Industriestandort Deutschland erhalten.

Bei Baerbock kommt das Klimasofortprogramm einer möglichen Ampel-Koalition als große Chance daher, als Versprechen auf ein Qualitätssiegel "hergestellt in einem klimaneutralen Europa", quasi eine Art europäische 2.0-Version von "Made in Germany". Auf dem Weg dorthin will die Grünen-Vorsitzende Olaf Scholz offenbar sogar überholen mit noch mehr Tempo. Schon vom 1. Januar 2022 an müssten die Blockaden bei der erneuerbaren Energie gelöst und vor allem die Windkraft massiv ausgebaut werden.

Das heikle Thema Kohleausstieg, der laut Sondierungspapier "idealerweise" von 2038 auf 2030 vorgezogen werden soll, lässt die Grüne nicht aus. Die Sondierer hatten diesen Schritt auf Betreiben der Grünen vereinbart und festgehalten, dass früher als bisher geplant überprüft werden soll, ob der schnellere Abschied von der Kohle zu schaffen ist. Es sei, sagt Baerbock, "die herzliche Einladung, diesen mutigen Schritt gemeinsam zu gehen".

Lindners Steuersenkungspläne kommen auch nicht gut an

Ein Schritt, von dem Christian Lindner kurz danach sagen wird: "Das war kein Anliegen der FDP." Der alte Christian Lindner hätte danach vermutlich die ein oder andere bissige Bemerkung auf Kosten der Grünen gemacht. Der neue Linder aber, der Ampel-Lindner, lässt das natürlich bleiben und sagt stattdessen: Es gehöre zu einer Koalition, dass man sich zu den gemeinsam gefundenen Kompromissen auch bekenne.

Im Übrigen weiß Lindner natürlich, dass er bei den Gewerkschaftern mindestens ebenso skeptisch beäugt wird wie Baerbock. Spätestens wenn er zu seinem Nein zu Steuererhöhungen kommt, was am Ende seiner Rede der Fall sein wird. Vorher aber spricht er erst mal darüber, dass das "ambitionierte Ziel" eines vorgezogenen Kohleausstiegs die Versorgungssicherheit und die Wettbewerbsfähigkeit der Energiepreise ebenso wenig gefährden dürfe wie die mittelbar und unmittelbar betroffenen Arbeitsplätze. "Wenn wir es richtig anstellen", lockt Lindner die Industriegewerkschafter, könne aus der Dekarbonisierung "eine neue Chance" erwachsen, ja sogar "großartige Exportchancen".

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