Olaf Scholz hat große Erwartungen geweckt, dass er möglichst viele Industriearbeitsplätze retten kann, und er versucht sich in der Rolle des Arbeiterführers – aber die Kakofonie in seiner Koalition macht es ihm schwer, diese Erwartungen auch zu erfüllen. Das Gegeneinander fängt damit an, dass es an diesem Dienstag zu einer auch in der Geschichte der Ampelkoalition besonderen „Gipfel“-Dramaturgie kommt: Der Kanzler trifft Industrie- und Gewerkschaftsvertreter, die FDP ein paar Stunden früher andere führende Wirtschaftsverbände. Während der Kanzler sein Treffen zum vertraulichen Austausch herunterdimmt, werden wohl die Fernsehbilder vor allem Christian Lindner und der FDP gehören.
Anders als beim Treffen im Kanzleramt nämlich soll es nach der FDP-Veranstaltung auch einen Presseauftritt der Teilnehmer geben. Geladen hat offiziell die Bundestagsfraktion, kommen sollen unter anderem der Präsident der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, Rainer Dulger, Handwerkspräsident Jörg Dittrich und der Hauptgeschäftsführer des Industrie- und Handelskammertags, Martin Wansleben – all jene Spitzenvertreter der Wirtschaft also, die von Scholz keine Einladung erhalten hatten.
Der Kanzler, so sieht man das zumindest bei FDP und Grünen, hat das Theater um Gipfel und Gegengipfel mit heraufbeschworen, indem er zu seinem Industrietreffen auch den eigenen Wirtschaftsminister und den Finanzminister nicht einlud. Pressestatements sind nicht geplant, auch nicht die üblichen Auftaktbilder. Das Treffen beginnt um 16 Uhr und ist auf zwei bis drei Stunden angesetzt – selbst die Teilnehmer werden bisher öffentlich nicht genannt. In der SPD wird betont, es sei gut, dass Scholz das Thema Industriearbeitsplätze zur „Chefsache“ mache, das hatte auch der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich gefordert. Die Lage in der Stahlbranche, insbesondere aber beim Autobauer VW, wo mehrere Werkschließungen in Deutschland und der Abbau Tausender Arbeitsplätze drohen, hat die Situation weiter verschärft.
Die FDP will mit ihrem Gipfel auch ihren Unmut über Scholz ausdrücken
Aber Scholz will erst einmal nur zuhören, auch wenn die Forderungen etwa nach deutlich geringeren Energiekosten seit Langem bekannt sind und es angesichts der Lage auch ein Wettlauf mit der Zeit ist. Er müsste sich ohnehin danach mit Lindner und Robert Habeck (Grüne) ins Benehmen setzen, ob trotz der angespannten Haushaltslage noch zusätzliche Impulse möglich wären. Intern heißt es, der Kanzler wolle von besonders betroffenen Branchen, wo die meisten Arbeitsplätze gefährdet sind, erfahren, was getan werden könnte, wo Unternehmen und Gewerkschaften einen Konsens haben. Er wolle keineswegs eine Showveranstaltung.
Die FDP hingegen will mit ihrem Gegengipfel ganz offensichtlich auch ihren Unmut über Scholz‘ Alleingang ausdrücken. Übertreiben allerdings wollen es die Liberalen auch nicht. So hat die Partei nicht in das von ihr geführte Finanzministerium geladen. Das Treffen soll unter Schirmherrschaft der Fraktion im Reichstag stattfinden. Die Erwartungen an den Termin sind jedoch gering. Die FDP kann sich vorstellen, mehr Reformen anzupacken als in der „Wachstumsinitiative“ bereits verabredet. Lindner brachte darüber hinaus auch niedrigere Steuern ins Spiel – aber auch da ist wieder die Frage: Wie ist das zu finanzieren?
Scholz wiederum sieht auch bei Themen wie Bürokratie und Regulierung noch Stellschrauben. Der Kanzler, zunehmend unter Druck stehend, hatte am 24. September mit einer kämpferischen Rede in der SPD-Fraktion Hoffnungen auf einen großen Wurf geweckt, vielleicht gar eine Art Industrie- und Konjunkturpaket. Anfang Oktober skizzierte er bei einer Konferenz des Außenhandelsverbandes, was kommen könnte: ein milliardenschwerer Staatszuschuss zur Senkung der Netzentgelte etwa, die vor allem energieintensiven Betrieben die Arbeit erschweren. Allerdings war ein solcher Plan schon einmal an den Haushaltsnöten der Regierung gescheitert.
Die Grünen halten sich raus, es gibt für sie nichts zu gewinnen
Wer sich gerade eher zurückhält, sind die Grünen. Für sie gebe es bei diesem Doppel-Gipfel schlicht nichts zu gewinnen, heißt es aus Fraktionskreisen, die Situation sei zu „fragil“, um sie für Programmatik auszunutzen. Inhaltlich liegt ihre Position ohnehin auf dem Tisch, und zwar in Form von Habecks „Deutschland-Fonds“. Hinter dem kann sich ein Großteil der Fraktion versammeln, er sieht unter anderem staatliche Prämien für Unternehmen vor, die in Deutschland investieren. Lindner hat das bereits grob durchrechnen lassen und landet bei Kosten von rund 48 Milliarden Euro pro Jahr. Habeck hat durch die Lage zumindest am Dienstag gipfelfrei. Er brauche ohnehin keinen Gipfel, sagt er, „ich bin permanent am Bergsteigen“.
Zum Grundsatzstreit der Ampel-Partner kommt die Frage, wie jene, auch schon ohne zusätzliche Konjunkturmaßnahmen, gewaltige Lücke geschlossen werden soll, die wenige Wochen vor Jahresende noch immer im Entwurf für den Bundesetat 2025 klafft. Bereits am 14. November, in gut zwei Wochen also, will der Haushaltsausschuss des Bundestags in seiner sogenannten Bereinigungssitzung letzte Hand an das Zahlenwerk legen. Vielen Abgeordneten ist im Moment aber nicht einmal genau klar, wie viel Geld überhaupt fehlt. Lindner sprach bei der Bekanntgabe der jüngsten Steuerschätzung vergangene Woche lediglich von einem „einstelligen Milliardenbetrag – wobei die Zahl näher an zehn als an eins liegt“.
Die Kosten für erneuerbare Energien und Bürgergeld vergrößern das Loch im Etat
Tatsache ist: Weil die Rezession entgegen allen Erwartungen andauert, besteht nach den Worten des Ministers ein zusätzlicher „Konsolidierungsbedarf“ von 13,5 Milliarden Euro. Zusätzlich deshalb, weil es neben dieser neuen Lücke ja auch noch die bereits bekannte sogenannte globale Minderausgabe (GMA) von zwölf Milliarden Euro gibt – das sind Ausgaben, die bisher nicht von Einnahmen gedeckt sind. Eine solche Konstruktion ist üblich, da die Ministerien erfahrungsgemäß am Ende nicht ihr gesamtes Budget benötigen, weil etwa Projekte sich verzögern. Allerdings sind zwölf Milliarden Euro zu viel – darüber immerhin sind sich die Koalitionäre einig. Sie peilen stattdessen gut 9,5 Milliarden und damit einen Prozentsatz an, wie es ihn auch in früheren Jahren häufig gab.
Um nun die Lücke von 13,5 Milliarden Euro zu schließen, will Lindner zunächst jene sieben Milliarden Euro verwenden, die eigentlich als Subvention an den US-Chip-Konzern Intel fließen sollten. Da Intel den Bau eines Werks in Deutschland gestoppt hat, wird das Geld dort nicht benötigt. Weitere fünf Milliarden sollen über zusätzliche Kredite finanziert werden, die der Minister aufnehmen darf, weil die Konjunktur schlechter läuft als erwartet. Bleibt ein Fehlbetrag von 1,5 Milliarden Euro.
Nun soll aber die GMA ja um 2,5 Milliarden Euro reduziert werden, damit wächst die Lücke wieder von 1,5 auf vier Milliarden Euro. Hinzu kommen zusätzliche Kosten fürs Bürgergeld sowie die Förderung erneuerbarer Energien in jeweils wohl niedriger einstelliger Milliardenhöhe. Unter dem Strich ergibt sich jener hohe einstellige Milliardenbetrag, den Lindner nannte.
Offiziell haben die Haushaltspolitiker der Koalitionsfraktionen die Dinge jetzt in der Hand, da die Regierung ihren Etatentwurf bereits an den Bundestag übermittelt hat. De facto aber dürfte die Entscheidung zwei Hierarchie-Ebenen höher fallen, beim Trio Scholz, Habeck und Lindner, also bei gemeinsamen Treffen – falls die Koalition überhaupt noch zu Entscheidungen in der Lage ist.