Die Sätze des Kanzlers kamen nicht aus der spontanen Erregung, sondern waren sorgfältig vorbereitet. Er habe „jede denkbare Anstrengung“ unternommen, um die Koalition zu erhalten, aber „nach den Ereignissen der letzten Tage musste ich das Vertrauen zu einigen Führungspersonen der FDP verlieren“. Der Schluss des Manuskripts war dann eiskalt. Wichtig bleibe, „das Regierungsamt nicht durch Machenschaften beschädigen zu lassen“. Moment, hat Olaf Scholz der FDP wirklich „Machenschaften“ vorgeworfen? Oder hat der Teleprompter diese Attacke womöglich verschluckt?
Nein, hat er nicht. Denn die Rede stammt gar nicht von Olaf Scholz, und sie wurde auch nicht vom Teleprompter abgelesen. Gehalten hat sie Bundeskanzler Helmut Schmidt im September 1982 im Deutschen Bundestag, nachdem die sozialliberale Koalition zerbrochen war. Es wirkt fast so, als habe Scholz für seine Rede am vergangenen Mittwoch Archivstudium betreiben lassen. Denn vieles wirkt wie ein Déjà-vu, auch wenn die Rede von Schmidt viel länger war. Wo Schmidt davon sprach, der Wille zur politischen Gemeinsamkeit müsse „deutlich stärker sein als die Freude an vielfach wechselnden Taktiken und Interviewgefechten, je nach tagespolitischer Opportunität“, hat Scholz seinem Koalitionspartner Christian Lindner vorgeworfen, zu oft „kleinkariert parteipolitisch taktiert“ zu haben. Und wo Schmidt noch hanseatisch-zurückhaltend davon gesprochen hatte, sein Vertrauen in die FDP verloren zu haben, attackierte Scholz den FDP-Chef ohne jede hanseatische Zurückhaltung ganz frontal. Lindner habe „zu oft mein Vertrauen gebrochen“.
Doch nicht nur die Reden der beiden SPD-Kanzler ähneln sich verblüffend, auch der Zerfall der beiden Regierungen, der sozialliberalen Koalition im Jahr 1982 und das Ampel-Aus 42 Jahre später, weist viele Gemeinsamkeiten auf. In beiden Fällen war es ein Bruch mit langer Vorgeschichte und einem Knalleffekt am Ende. Bei Lindner war dieser Knalleffekt sein 18-seitiges Papier für eine umfassende Wirtschaftswende. Genauso verhielt es sich auch mit der Denkschrift, die der damalige Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff 1982 verfasst hatte. Sie wurde von allen so verstanden, wie sie auch gemeint war: als Scheidungsbrief. In beiden Fällen waren diese Papiere nicht die Ursache für den Bruch, sondern nur deren Auslöser, der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
„Nun siecht mal schön“
Der Zerfall der sozialliberalen Koalition hatte bereits ein Jahr vor ihrem Ende begonnen, mit einem Brief des damaligen FDP-Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher an seine Partei, der aber natürlich für die Öffentlichkeit gedacht war. Dort hieß es, Deutschland stehe an einem Scheideweg. Das Schreiben ist als „Wendebrief“ in die Geschichte eingegangen. „Weitere Koalitionsstreitigkeiten sind mithin vorprogrammiert“, schrieb die Süddeutsche Zeitung im September 1981. So kam es dann auch. Schon die Verhandlungen über den Haushalt 1982, die genauso quälend waren wie die nächtlichen Etatgespräche der Ampel, ließen ahnen, dass der endgültige Bruch nur eine Frage der Zeit sein würde. So wie die FDP zuletzt Kürzungen beim Bürgergeld und bei der Rente verlangte, setzten die Liberalen damals auf Senkungen beim Arbeitslosengeld und Abstriche bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Als am Ende der Haushaltsverhandlungen im Herbst 1981 SPD-Fraktionschef Herbert Wehner die erschöpften Koalitionäre ermunterte, noch einen Schnaps zusammen zu trinken, winkte SPD-Chef Willy Brandt ab. Er verabschiedete sich, so berichtete es der Spiegel damals, mit den Worten: „Nun siegt mal schön, und ich überlasse es euch, ob ihr das Wort mit g oder ch schreibt“.
Nun siecht mal schön – treffender lässt sich die Agonie der Ampel in den vergangenen Monaten nicht beschreiben. Immer wieder säte die FDP Zweifel daran, ob sie weiter an Bord bleiben würde. Mal war es Generalsekretär Bijan Djir-Sarai, mal Parteichef Lindner selbst. Und die notorischen Querschläger von Wolfgang Kubicki gegen die Koalitionspartner gehörten ohnehin immer dazu.
„Der eine klare Satz hat immer gefehlt“, hat Helmut Schmidt 1982 in Richtung FDP gesagt. Das könnte Olaf Scholz glatt in seine Regierungserklärung in der nächsten Woche übernehmen. Denn der eine klare Satz der FDP hat auch seit vielen Monaten immer gefehlt. Schmidt wollte die FDP-Minister damals entlassen, doch die kamen ihm mit ihrem Rücktritt zuvor. Scholz war mit seiner Entlassung von Lindner schneller. Schmidt war es damals nicht zuletzt mit seiner Rede im Bundestag gelungen, die FDP als Schuldigen des Koalitionsbruchs zu brandmarken. Auch heute gilt für viele die FDP als treibende Kraft für den Bruch. Und die Schuldfrage hat in der Politik immer eine große Rolle gespielt.
Kohl wählte nach Tagen wilder Spekulationen den sicheren Weg
Doch es gibt zwei gravierende Unterschiede zwischen den beiden Geschichten. Damals war es Helmut Schmidt, der sofortige Neuwahlen über das Instrument der Vertrauensfrage anbot. Auch in der Union waren anfangs viele für diesen Weg. Besonders vehement forderte CSU-Chef Franz Josef Strauß sofortige Neuwahlen – und hatte dabei auch eigensüchtige Motive. Strauß hoffte auf ein Scheitern der FDP, um damit seinen Traum vom Außenministerium zu verwirklichen. Doch Helmut Kohl wählte nach Tagen wilder Spekulationen den sicheren Weg. Weil Union und FDP, anders als heute, zusammen eine Mehrheit hatten, konnte Kohl über ein konstruktives Misstrauensvotum ins Amt kommen. Erst gut zwei Monate später, als sich die Aufregung gelegt hatte, stellte er über eine absichtlich verlorene Vertrauensfrage die Weichen für vorzeitige Neuwahlen im März 1983.
Kohl konnte damit nicht nur einen Kanzlerwahlkampf führen, sondern rettete auch die FDP. Den Liberalen hätte bei sofortigen Neuwahlen das von Strauß erhoffte Aus gedroht. Das hing – und das ist der zweite große Unterschied – auch mit der überaus großen Popularität von Kanzler Helmut Schmidt zusammen. Die SPD schaffte es im Oktober 1982 mit der Kampagne vom Verrat in Bonn, die FDP bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern aus dem Landtag zu kegeln. Schnelle Neuwahlen mit Schmidt als Spitzenkandidat und einem Verratswahlkampf der SPD wären für die Union ein beträchtliches Risiko gewesen.
Heute ist es genau umgekehrt. Scholz ist so unpopulär wie noch kein Kanzler vor ihm. Deshalb drängt die gesamte Union auf sofortige Neuwahlen, während Scholz auf Zeit spielt, in der Hoffnung, neuen Wind unter die Flügel zu bekommen. Nur für die FDP hat sich nicht viel verändert. Sie muss auch heute um ihr Überleben bangen. Die aktuelle Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen sieht die Liberalen bei drei Prozent.