Süddeutsche Zeitung

Amnesty zu Amerikas Drohnenprogramm:Bericht des Grauens

Eine Großmutter auf dem Feld, eine Gruppe Arbeiter beim Abendessen: Amnesty International wirft der US-Regierung vor, bei ihren Drohnen-Einsätzen in Pakistan Hunderte Zivilisten getötet zu haben. Die Unübersichtlichkeit der neuen Kriege stellt Juristen vor große Herausforderungen.

Von Matthias Kolb und Ronen Steinke

Mahama Bibi wollte auf dem Feld ihrer Familie Okraschoten für das Abendessen pflücken, als sie am 24. Oktober 2012 von zwei Hellfire-Raketen getötet wurde. Abgefeuert wurden sie von einer amerikanischen Drohne. Als Mahama Bibi in Stücke gerissen wird, sind auch ihre drei Enkel auf dem Feld. Nabeela, 8, und Asma, 7, werden durch Geschosssplitter verletzt, nur Naeema, 5, bleibt körperlich unbeschadet. Traumatisiert sind sie alle. Ein weiterer Enkel wird bei einem zweiten Drohneneinsatz verwundet, der wenige Minuten später erfolgte.

Der Tod der 68-Jährigen und die Verletzungen der Kinder im Dorf Ghundi Kala ist einer der schockierenden Einzelfälle über die zivilen Opfer des US-Drohnenkriegs, den die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) in ihrem 76-Seiten-Bericht "Will I be next?" beschreibt.

In Mahama Bibis Familie, so schildert es Amnesty International, gebe es keine Terroristen. Ihr Ehemann war einst Schuldirektor und drei ihrer Söhne arbeiten ebenfalls als Lehrer. "Wir sind ganz normale Leute", sagt ihr einer Sohn, Rafeequl Bibi.

Mustafa Qadri, Autor des Berichts, sagte der New York Times: "Dieser Vorfall war eine illegale Hinrichtung." Den AI-Recherchen zufolge war der pakistanische Geheimdienst überzeugt, dass ein örtlicher Talibankämpfer kurz vor dem Einsatz auf einer Straße in der Nähe von Bibis Haus vorbeigefahren sei. Selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte: Die nächste Straße ist mehr als 280 Meter von Mahama Bibis Haus entfernt.

Für ihren Bericht hat die Menschenrechtsorganisation 45 Drohnenangriffe untersucht, die zwischen Januar 2012 und August 2013 in der schwer zugänglichen Bergregion Nordwaziristan geflogen worden seien.

Als zweites Beispiel greift AI einen Fall vom Juli 2012 heraus: Damals seien 18 Zivilisten in Zowi Sidgi aus der Luft angegriffen worden, die sich zum Abendessen zusammengesetzt hätten. Obwohl die Dorfbewohner "keinerlei Bedrohung darstellten", seien sie in offiziellen US-Berichten als militante Kämpfer bezeichnet worden, so Amnesty.

Unklarheit über Zahl der zivilen Opfer

Die Menschenrechtler schätzen, dass seit 2004 zwischen 400 und 900 pakistanische Zivilisten durch Drohneneinsätze getötet wurden; mindestens 600 Zivilisten seien "ernsthaft verwundet" worden. Der Brite Ben Emmerson, UN-Sonderberichterstatter zu Menschenrechten bei der Bekämpfung von Terrorismus, gibt die Opferzahl allein in Pakistan mit mindestens 2200 Menschen an.

In ihrem Bericht kritisiert Amnesty International nicht nur Pakistans Regierung für deren "stillschweigende Unterstützung" des US-Drohnenprogramms, sondern wirft auch Australien, Großbritannien und Deutschland vor, die Angriffe möglich zu machen. Als Quelle werden "pakistanische Geheimdienstoffiziere im Ruhestand" genannt. Bereits im August 2013 hatten die Süddeutsche Zeitung und das NDR-Magazin Panorama aufgedeckt, dass der Bundesnachrichtendienst dem US-Auslandsgeheimdienst CIA Daten wie etwa Handy-Nummern geliefert hat.

Mit ihrer Drohnenkampagne steht die US-Regierung seit Jahren in der Kritik. Es geht dabei um den Kernsatz des humanitären Völkerrechts: Zivilisten dürfen unter keinen Umständen in Kriegshandlungen hineingezogen werden. Das ist die Quintessenz aller Kriegsrechts-Konventionen. Wer dagegen absichtlich verstößt oder auch nur offen erkennbare Gleichgültigkeit gegenüber der roten Linie zwischen Kämpfern und Zivilisten demonstriert, der macht sich eines Kriegsverbrechens schuldig.

Das Prinzip stammt aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts, also freilich aus einer Zeit, als Kriege übersichtlicher waren, mit zwei Heeren, die sich auf dem Schlachtfeld begegneten. Damals genügte es, wenn eine rechtstreue Armee anhand der Kleidung unterschied: Wer eine Uniform trug, der war ein Kämpfer und durfte beschossen werden. Wer keine trug, blieb tabu.

Wer ist Kämpfer, wer ist Zivilist?

Schlachtfelder gibt es heute kaum mehr. Konventionelle Armeen haben es zunehmend mit Gegnern zu tun, die im Keller eines Wohnhauses Bombendrähte löten, als am Kartentisch einer Kaserne Gefechtsformationen zu planen. Und so stellen sich für Völkerrechtler Fragen wie diese: Sind die Al-Qaida-Männer in Jemen Zivilisten? Oder die Taliban in Afghanistan?

Selbst das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Genf, die Hüterin des humanitären Völkerrechts, gesteht den USA in dieser unübersichtlichen Gemengelage zu, dass sie auch "irreguläre Kämpfer" - Bauern, die sich eine Kalaschnikow umschnallen, Studenten, die für ein paar Monate in den Dschihad ziehen - wie feindliche Soldaten betrachten und attackieren dürfen. Wichtig ist, dass sie während eines Zeitraums "dauerhaft" und nicht nur sporadisch kämpfen.

Es gibt auch in dieser unübersichtlichen neuen Welt der asymmetrischen Kriege klare Fälle. Die 68 Jahre alte Mahama Bibi, die getöteten pakistanischen Arbeiter: Einzelfälle, wie sie nun der Amnesty-Bericht herausstellt, würden, wenn sie sich so bewahrheiten, Kriegsverbrechen darstellen.

Es gibt aber auch viele Fälle, die weniger klar sind. Ist der bewaffnete Mann, der bei einem bekannten Al-Qaida-Fürsten ein- und ausgeht, ein Mitverschwörer? Oder nur ein Familienangehöriger?

Die Methoden, nach denen Washington diese Fragen für sich klärt, sind undurchsichtig, wie es die Geheimdienstarbeit meist ist. Und das, was von diesen Techniken bislang bekannt geworden ist, hat mitunter heftige Kritik ausgelöst: So betrachteten die USA gelegentlich alle Männer, mit denen ein bekannter Terrorkämpfer näheren Umgang hat, "automatisch" auch als Kämpfer im Terrorkrieg.

Davon berichtet auch der US-Journalist Jeremy Scahill in seinem gerade erschienen Buch "Schmutzige Kriege": Demnach sieht das US-Militär in gewissen Regionen Afghanistans, Pakistans und Jemens jeden Mann zwischen 15 und Ende 60 als "military age man" an - also als kampffähig und damit als potenziellen Terroristen. "Die Zahl der zivilen Toten bei einem Drohneneinsatz ist also gering, weil es per Definition nur wenige Zivilisten gibt", so Scahill jüngst zu Süddeutsche.de.

Klar ist: Die neue, moderne Technik der Drohnen, die so präzise und nah aus der Luft zuschlagen können wie noch keine Waffentechnik zuvor, bietet für das humanitäre Völkerrecht auch eine Chance. Präzision ist grundsätzlich ganz im Sinne des Völkerrechts. Wer genau hinschauen kann, der kann genauer unterscheiden zwischen Kämpfern und Zivilisten.

Von Empfehlungen und unglaubwürdigen Kritikern

Inwiefern die USA diese Chance jedoch nutzen, darüber wird seit der Veröffentlichung des Amnesty-Berichts in Deutschland mit neuer Vehemenz debattiert. Diese Diskussion wird in den kommenden Tagen und Wochen weitergehen. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat ebenfalls an diesem Dienstag eine umfassende 97-Seiten-Studie über die zivilen Opfer des Drohnenkriegs in Jemen mit dem Titel "Between a drone and al-Qaeda" vorgelegt. Darin werden detailliert sechs Fälle aus den Jahren 2009 beziehungsweise 2012/2013 aufgearbeitet, bei denen laut HRW Zivilisten ums Leben kamen oder das US-Militär mit übertriebener Härte agierte.

Amnesty International richtet sechs Empfehlungen an Washington: Die USA sollten mehr Informationen über die Umstände des Todes von Mahama Bibi sowie der 18 Arbeiter offenlegen, die militärisch Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen und die Familien der Getöteten entschädigen. Die Regierungen von Pakistan sowie von Australien, Großbritannien und Deutschland werden aufgefordert, auf keinen Fall "in irgendeiner Art" das US-Drohnenprogramm zu unterstützen.

Auf US-Präsident Barack Obama warten nicht nur beim Washington-Besuch des pakistanischen Ministerpräsident Nawaz Sharif an diesem Mittwoch unangenehme Fragen. Wenn am Freitag die UN-Generalversammlung über das Thema debattiert, werden sicher weitere kritische Fragen an den Friedensnobelpreisträger Obama ausgerufen werden - und auch von Vertretern jener Staaten, die es sonst mit dem Schutz der Menschenrechte nicht allzu genau nehmen.

Linktipps:

  • Der Bericht von Amnesty International über die Auswirkungen der US-Drohneneinsätze in Pakistan ist hier nachzulesen.
  • Mehrere Einzelfälle, darunter den Tod der 68-jährigen Mahama Bibi, hat AI auf dieser Website mit viel Kartenmaterial multimedial aufgearbeitet.
  • Der Bericht von Human Rights Watch über die Auswirkungen der US-Drohneneinsätze in Jemen ist hier zu finden.
  • Weitere Hintergründe über das US-Drohnenprogramm liefert das Buch "Schmutzige Kriege" von Jeremy Scahill.
  • Reporter der New York Times schildern in dieser Reportage, wie die US-Drohnen den Alltag in der pakistanischen Kleinstadt Miram Shah beeinträchtigen.

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