Krieg in Gaza:Amnesty wirft Israel Völkermord vor

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Eine Kriegsführung, die das Leben für die Bewohner „unerträglich“ macht: Ein palästinensischer Junge läuft durch ein von einem israelischen Angriff getroffenes Flüchtlingslager in Bureidsch. (Foto: Eyad Baba/AFP)

Die Regierung in Jerusalem verfolge die „Absicht“, die Bevölkerung in Gaza „ganz oder teilweise zu vernichten“ – zu diesem Schluss kommt ein Bericht der Menschenrechtsorganisation. Damit geht sie weiter als internationale Gerichte.

Von Ronen Steinke, Berlin

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft Israel vor, einen Völkermord im Gazastreifen zu begehen. Es geht um Methoden der Kriegsführung, die zu einer hohen Anzahl ziviler Todesopfer führen und das Leben für die etwa zwei Millionen palästinensischen Bewohner dieses Gebiets „unerträglich“ machen würden. Auch geht es um einzelne Vorwürfe illegaler Hinrichtungen im Gazastreifen durch israelische Soldaten, auch wenn Belege hierfür „rar“ seien.

In einem umfangreichen Bericht, den die Organisation mit Hauptsitz in London in der Nacht zum Donnerstag veröffentlichen will, beschreiben die Autoren, wie man neun Monate lang – von Oktober 2023 bis Juli 2024 – Beweismittel gesammelt habe. Amnesty habe mit 212 Personen gesprochen, zu denen etliche Betroffene, aber auch „vertrauenswürdige Feldforscher*innen“ im Gazastreifen zählen würden, wie die Organisation schreibt. Zudem habe man digitales Material wie Satellitenbilder ausgewertet.

Die Menschenrechtsorganisation hat zudem mehr als 100 Äußerungen hochrangiger israelischer Verantwortlicher aus Politik und Militär zusammengetragen, die es im Hinblick auf Israels Absichten interpretiert. Wenn etwa Israels Premierminister Benjamin Netanjahu von einem Kampf der „Menschheit gegen das Gesetz des Dschungels“ spreche, dann beziehe sich das nicht allein auf die terroristische Hamas – sondern in rassistischer Weise gegen alle Palästinenser, meint Amnesty.

Eine „einzig plausible Erklärung“ für das israelische Handeln

Wie schon die Republik Südafrika, die sich mit demselben Vorwurf vor einem knappen Jahr an den Internationalen Gerichtshof (IGH) gewandt hatte, meint Amnesty: Solche und ähnliche Belege ließen nur den Schluss zu, dass Israel die „Absicht“ verfolge, die Bevölkerung Gazas „ganz oder teilweise zu vernichten“, wie es in der juristischen Definition von Völkermord heißt.

„Einzeln betrachtet stellen einige der von Amnesty International untersuchten Handlungen schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und internationale Menschenrechtsnormen dar“, sagt die Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty, Julia Duchrow. Betrachte man aber „das Gesamtbild“, dann sei „eine genozidale Absicht die einzig plausible Erklärung für die Gesamtheit israelischen Handelns“, so Duchrow.

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Den Einwand Israels, dass man nur gegen die Hamas als legitimen militärischen Gegner kämpfe, der auch jederzeit den Krieg beenden könne, lässt Amnesty dabei nicht gelten. „In jedem bewaffneten Konflikt wird es immer militärische Ziele geben“, schreiben die Autoren des 296 Seiten starken Berichts. „Diese militärischen Ziele mögen mit einer Absicht zum Genozid Hand in Hand gehen, oder der Genozid könnte das Mittel sein, durch welches militärische Ziele erreicht werden.“

Eine weitere Anklage lautet: Apartheid

Die Menschenrechtsorganisation wagt damit eine These, die die zuständigen internationalen Gerichte derzeit nicht (oder jedenfalls noch nicht) wagen. Der IGH hatte im Januar zwar einen „plausiblen“ Anfangsverdacht dafür gesehen, dass Israel gegen Bestimmungen der Genozidkonvention von 1948 verstoße. Zu diesen Bestimmungen gehört zum Beispiel auch, dass Staaten die Pflicht haben, schon verbale Hetze gegen Minderheiten zu unterbinden.

Die Richter des IGH hatten an die Adresse der israelischen Regierung auch deutliche Forderungen gestellt, mehr humanitäre Hilfe in den Gazastreifen hineinzulassen – Forderungen, die dann allem Anschein nach ignoriert worden sind. Eine Klärung, ob tatsächlich die juristische Definition des Völkermords erfüllt ist, hat es aber bis heute nicht gegeben. Das Verfahren in der Hauptsache läuft noch. Bis zu einem finalen Urteil könnte es Jahre dauern. Der IGH ist das höchste Rechtsprechungsorgan der UN.

Zuletzt hatte ein zweites Gericht, der Internationale Strafgerichtshof (IStGH), der gegen Israels Premier Netanjahu und dessen ehemaligen Verteidigungsminister Joav Gallant ermittelt, von einem Genozidvorwurf abgesehen. Genauer: In einer Erklärung zum Haftbefehl gegen Netanjahu in der vorvergangenen Woche schreibt die zuständige Ermittlungskammer des IStGH, sie sehe keine hinreichenden Anhaltspunkte für den Verdacht, dass Israel die systematische „Ausrottung“ einer großen Anzahl von Zivilisten anstrebe. Den weiter gehenden Vorwurf eines Völkermords erhebt der IStGH dann erst recht nicht.

Wie schon in der Vergangenheit spricht Amnesty in seinem Bericht von einem „Apartheidssystem, welches alle Palästinenser innerhalb Israels sowie der besetzten palästinensischen Gebiete einem institutionalisierten Regime von Unterdrückung“ unterwerfe. Auch bei dieser These gehen internationale Gerichte bislang nicht mit. In einem Gutachten zur israelischen Besatzungspolitik, das der IGH im Juli erstattet hatte, ließ das Gericht seine Haltung zum Vorwurf der „Apartheid“ offen und verwendete das Wort nicht.

Der Sprecher des israelischen Außenministeriums, Oren Marmorstein, wies am Donnerstag den Vorwurf des Völkermords  zurück. Die Organisation sei fanatisch und der Bericht aus der Luft gegriffen, schrieb er auf der Online-Plattform X. Der von Amnesty International vorgelegte Bericht sei völlig falsch und basiere auf Lügen.

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