Amerikas Rückkehr zur Geopolitik:Von wegen Rache

Amerikas Rechte ersetzen Idealismus wieder durch Geopolitik und obliegen damit einem durchschaubaren Euphemismus: Die alte Machtpolitik nimmt unter neuem Etikett die Zügel in die Hand.

Andreas Zielcke

Noch jede politische Heilsmission zieht ideologischen Katzenjammer nach sich. Ist die Luft raus und die Flamme des Aktivismus erloschen, sieht man rückblickend das lodernde Treiben plötzlich wie eine peinliche Ausschweifung. Haben wir uns wirklich so grotesk aufgeführt, so maßlos echauffiert?

US-Soldaten in Bagdad; Reuters

US-Soldaten in Bagdad: Robert D. Kaplan lehren die Erfahrungen aus dem Irakkrieg "Realismus".

(Foto: Foto: Reuters)

Kein Wunder darum, dass auch der Neokonservativismus nach dem Ende der Bush-Ära seine weltanschauliche Ernüchterung erlebt. Doch auch der Katzenjammer gebiert seine Spukgestalten. Exemplarisch steht dafür Robert D. Kaplans Artikel "The Revenge of Geography" in der letzten Ausgabe von Foreign Policy.

Kaplan, der amerikanische Reporter und Lehrbeauftragte für Sicherheitspolitik, gehörte nie zu den Hardlinern des neokonservativen Blocks, aber doch zu jenen, die große Teile der Welt so wahrnahmen, als ob sie von der US-Armee "zivilisiert" werden müssten wie seinerzeit das "injun country", das Indianerland des 19. Jahrhunderts.

Kurz nach dem 11. September veröffentlichte er das Buch "Warrior Politics: Why Leadership Demands a Pagan Ethos", in dem er dafür warb, dass politische und wirtschaftliche Führung sich von der christlich-jüdischen Moralität ablösen müsse zugunsten einer heidnischen Ethik, in der die Zwecke die Mittel heiligen.

Wenn er jetzt auf die von ihm damals befürwortete Entscheidung zum Irakkrieg ernüchtert zurückschaut, dann nicht deshalb, weil er - wie es im Deutschen so schön heißt - am Morgen danach den "Moralischen" bekommen hätte. Was ihn die Erfahrungen des Irak- und auch des Afghanistankrieges vielmehr lehren, ist "Realismus".

Derselbe Realismus, der unter den Neokonservativen, wie Kaplan selbst berichtet, ein Unwort war, ein Ausdruck von feiger politischer Nachgiebigkeit, gilt nun wieder als "respektabel". Wer ihn noch immer als Fatalismus oder gar Appeasement denunziert, hat nichts dazugelernt.

Nun ist aber "Realismus" oder auch Realpolitik kein politisches Geschäft, das man seinerseits ideologiefrei betreiben könnte. Auf ein politisches Terrain kann man unter verschiedensten Blickwinkeln "realistisch" schauen - im Falle des Iraks etwa auf seine religiöse und ethnische Fragmentierung, auf seine despotische Vorgeschichte, seine Bodenschätze, seine strategische Lage und so fort.

Kaplan entscheidet sich unter all diesen Möglichkeiten für die "geographische" Perspektive. Damit taucht er tief in ein politisches Denken ein, das meist unter der Rubrik "Geopolitik" geführt wird und seine eigene dubiose Tradition hat.

Machiavelli im Weltmaßstab

Beide, der militante Idealismus ebenso wie der geopolitische Realismus, sind global orientiert. Zuvor, unter Bushs Leuten, aber auch unter den intellektuellen Befürwortern des "gerechten Krieges", war es der Imperativ, Freiheit und Demokratie notfalls mit Gewalt über die Welt zu bringen: Kant und Isaiah Berlin mit Feuer und Schwert.

Jetzt ist es das politische Kalkül, wie man den Erdball in "geographisch determinierte" Einflusssphären aufteilen und sich den angemessenen Teil des Kuchens auf Dauer sichern kann: Hobbes, Bismarck und Machiavelli im Weltmaßstab.

Die quasi "natürliche" Raumordnung des Erdballs

Nun ist es ja nicht so, dass die USA das geopolitische Interesse je außer Acht gelassen hätten, auch nicht unter Bush. Die Sicherung der Vormacht im amerikanischen Kontinent bis Feuerland, die hegemoniale Rivalität mit Russland, die expansive Funktion der Nato, die Arrangements oder Kooperationen mit Ländern wie China, Saudi-Arabien oder Pakistan, all dies war und ist steter Ausdruck einer wenn nicht imperialen, so doch geopolitischen Mentalität.

Und ebenso wenig haben die europäischen oder asiatischen Mittelmächte den geostrategischen Blick jemals verlernt, mögen ihre Durchsetzungskräfte auch erheblich bescheidener sein als die Amerikas.

Neu ist nur, dass die "Eigengesetzlichkeit der Geographie" wieder gegenüber jeglichem Idealismus aufgewertet wird. Widerspricht politische Zweckverfolgung der politischen Moral, darf diese wieder als weltfremd gescholten und übergangen werden. Der militärisch-humanitäre Interventionismus ist auf absehbare Zeit diskreditiert, Mars wieder im Schatten von Venus.

Doch die Venus, die den idealistisch-blindwütigen Kriegsgott wieder zurückdrängt, ist keineswegs eine Unschuldsgöttin. Kaplan gerät, indem er nach den politischen Gesetzen der geographischen Räume sucht, in einen ideologischen Sumpf, in dem es gefährlich irrlichtert.

Historisch bedeutsam ist ja, dass das geopolitische Denken nicht aus dem kolonialen Herrschaftsanspruch Europas hervorging. Geostrategischer Ehrgeiz hat es nicht mehr auf das Erobern weißer Flecken und unterentwickelter Kontinente abgesehen. Ihm geht es um die Herrschaftsverhältnisse einer im Grunde bereits verteilten Welt.

Insbesondere der Engländer Halford J. Mackinder hatte Anfang des 20. Jahrhunderts darum das Thema benannt, das bis heute im Zentrum der geopolitischen Diskussion steht - nicht das postkoloniale Afrika oder Lateinamerika, sondern die Machtzonen des eurasischen Doppelkontinents.

Die Spannung zwischen dem riesigen räumlichen Potential der russisch-asiatischen Mächte und dem geographisch zersplitterten europäischen Anhängsel wird heute, hundert Jahre später, vor dem Hintergrund der aufstrebenden Weltmächte Indiens und Chinas von den Geopolitikern zwar anders akzentuiert als damals, zumal seither die amerikanische Supermacht gegenübergetreten ist.

Aber viele Konfliktlinien Eurasias haben sich erhalten, nicht nur vor und hinter dem Ural, sondern vor allem auch in der unmittelbaren Peripherie. Die Brandherde im Nahen und Mittleren Osten, in Afghanistan und Pakistan und schließlich in der Korona Südostasiens lassen sich ohne den geographisch-politischen Bezug zum eurasischen Koloss nicht interpretieren.

NS-kontaminierte Begriffe

Selbst die überkommene amerikanische Position - die klassische Monroe-Doktrin, und später dann die "Containment"-Politik gegenüber der Sowjetunion - orientierte sich, wenn auch defensiv, in erster Linie am eurasischen Machtkonglomerat. Doch es blieb deutschen Theoretikern wie Karl Haushofer in den zwanziger und dreißiger Jahren vorbehalten, einen ethnisch und kulturreligiös aufgeladenen Begriff des geographischen "Raums" oder "Lebensraums" zu entwerfen, den ein "vitales Volk" ohne Rücksicht auf bestehende Staatsgrenzen aus "organischen" Gründen in Besitz nehmen dürfe.

Kaplan übergeht diese Linie des geopolitischen Denkens, wohlwissend um ihre fatale Inanspruchnahme durch das NS-Regime.

Aber auch wenn er diesen Exzess ausblendet, entgeht er der unheilvollen Prämisse nicht, auf der jede Rechtfertigung geographisch determinierter Machtverteilung fußt. Es ist die Anmaßung, eine quasi "natürliche" Raumordnung des Erdballs zu begründen und durchzusetzen.

Was das heißt, wenn in den Machtzentren chauvinistische Regime am Ruder sind, ist am Beispiel der russischen Satellitenländer, speziell im Kaukasus zu sehen, aber auch am Beispiels Tibets, im Nahen Osten sowieso und in all den anderen Regionen der Welt, in denen vermeintlich historisch verbürgte Gebietsansprüche geltend gemacht und "künstliche" Grenzen in Frage gestellt werden.

Darüber hinaus verschärft ein historisch noch sehr junges Kampfgebiet die aktuellen geopolitischen Optionen, nämlich die so genannten failed states, die scheiternden Staaten. Auch sie nimmt Kaplan nicht in den Blick, dafür aber Jakub Grygiel in seinem soeben erschienenen Aufsatz "Vacuum Wars - The Coming Competition Over Failed States" (in der aktuellen Ausgabe von American Interest).

Zerfallende Staaten wecken den machtpolitischen Appetit anderer Länder, in das Machtvakuum als politischer "Betreuer" vorzustoßen und sich als nation-builder anzudienen, um wertvolle politische Standortvorteile zu Lasten von Rivalen zu erzielen.

Ob derartige Wettläufe immer häufiger in Kriege ausarten werden, wie Grygiel voraussagt, oder ob hier mit anderen Mitteln neue Einflusssphären geschaffen werden, ist nicht ausgemacht. Ausgemacht aber ist, dass großflächige geopolitische Ambitionen meist herzlich wenig Rücksicht auf einen "natürlichen" geographisch-kulturellen Eigensinn der jeweils umstrittenen Region nehmen.

So korrigiert denn die Geographie nicht nur den realitätsfremden Idealismus. Vielmehr nimmt unter diesem Etikett wieder die alte Machtpolitik - angelegt wie eh und je zwischen wohlmeinender Hilfe, legitimem Egoismus und kalter Skrupellosigkeit - die Zügel in die Hand. Der geographische Realismus ist ein durchschaubarer Euphemismus.

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