Süddeutsche Zeitung

Amerikas Kinderimmigranten:Verloren am Rio Grande

Allein, ohne Eltern, meist nur mit der Geburtsurkunde im Gepäck fliehen Kinder vor den Drogenbanden in ihrer Heimat und hoffen, in den USA bleiben zu dürfen. Für viele eine Flucht durch die Hölle.

Von Nicolas Richter, Washington

Die Wüste tötet, so war sie schon immer. Sie raubt den Menschen Kraft und Verstand, mancherorts zwischen Mittel- und Nordamerika erinnert sie an einen Friedhof. "Die Knochen zahlloser Unbekannter zerbröseln zu Staub, manche werden vergraben von furchterregenden Sandstürmen, die über die Einöde fegen" - so beschrieb es ein Reisender bereits im Jahr 1850.

Die Landschaft hat sich nicht geändert seitdem. Aber die Menschen, die südlich davon leben, waren vielleicht noch nie so verzweifelt: Sie schicken jetzt ihre eigenen Kinder in die Wüste.

Niemand hat gezählt, wie viele junge Menschen diese Reise zuletzt angetreten haben in Guatemala, El Salvador, Honduras. Die Eltern dort haben ihren Nachwuchs in Scharen den Schlepperbanden anvertraut und ihnen Gottes Segen gewünscht auf der Suche nach dem amerikanischen Traum. Manche der Minderjährigen dürften sich unterwegs verirrt haben, verdurstet oder ihren Verletzungen erlegen sein. Manche sind, wie in diesen Landstrichen üblich, wohl an Wegelagerer geraten, die sie vergewaltigt, als Sexsklaven missbraucht oder ermordet haben.

"Humanitäre Krise"

Immerhin weiß man, wie viele es, meist durch das feindselige Rio Grande Valley hindurch, bis in die Vereinigten Staaten geschafft haben: Mehr als 50 000 allein reisende Kinder und 40 000 Mütter mit Kindern haben die US-Grenzschützer seit Oktober aufgegriffen, so viele wie noch nie, die allermeisten von ihnen in Texas.

Barack Obama, der US-Präsident, nennt es inzwischen eine "humanitäre Krise". Er verlangt vom Kongress fast vier Milliarden Dollar, um die Südgrenze der USA abzudichten und all die kleinen Gestrandeten zu versorgen, die bereits das vermeintlich gelobte Land erreicht haben.

Beklagenswerter Zustand der Einwanderungspolitik

300 Millionen Dollar sollen außerdem nach Mittelamerika fließen, um dort das Elend zu lindern. Die Krise ist akut und systemisch zugleich. Ihre unmittelbare Ursache sind Armut und Gewalt südlich von Mexiko - aus Sicht vieler Eltern dort ist die Flucht nach Norden für ihre Kinder noch das geringste unter vielen möglichen Übeln.

Aber die Krise wurzelt auch im beklagenswerten Zustand der US-Einwanderungspolitik. Pläne für eine Modernisierung stecken im Parlament fest. Die US-Regierung schiebt die Illegalen aus dem Süden mal mehr, mal weniger konsequent ab. Vor zwei Jahren hat Obama den Kongress umgangen und verfügt, dass wenigstens die Kinder illegaler Einwanderer ein faktisches Bleiberecht bekommen sollen, eine halbe Million junge Ausländer hat sich seitdem auch rechtlich in die US-Gesellschaft integriert.

In Mittelamerika allerdings hat sich daraufhin das Gerücht verbreitet, die USA hätten eine Generalamnestie für Kinder beschlossen. Plötzlich glaubten viele Familien, dass ihre Kinder noch am ehesten in den USA bleiben könnten, wenn sie allein unterwegs seien.

Jetzt, da Zehntausende Kinder nach einem sicheren Zuhause suchen, hat US-Heimatschutzminister Jeh Johnson einen offenen Brief an mittelamerikanische Familien geschrieben. "Die lange Reise ist nicht nur gefährlich, es gibt auf der anderen Seite auch keine permisos, permits oder Freibriefe", warnte er. Das Bleiberecht gelte nur für jene, die bis Mitte 2007 eingereist seien. Es sei verständlich, seinen Kindern eine bessere Zukunft zu wünschen, aber die Risiken seien zu groß. "Ich habe diese Kinder in Texas gesehen", schrieb Johnson. "In ihren Augen habe ich Angst und Verwundbarkeit erkannt."

Inzwischen verursacht die jüngste Einwanderungswelle groteske Szenen im Süden der USA. Weil Grenzschützer, Notunterkünfte und Gerichte in Texas völlig überlastet sind, verteilen die Behörden die neu eingereisten Ausländer mit Bussen und Flugzeugen in mehreren Bundesstaaten. Vergangene Woche zum Beispiel steuerten drei dieser Busse mit 140 Kindern und Müttern auf das kalifornische Murrieta zu, ein konservatives Städtchen in der Wüste, knapp 150 Kilometer südöstlich von Los Angeles gelegen. In den örtlichen Büros der Grenzpolizei sollten die Formalitäten erledigt werden für die vorübergehende Unterbringung, die Gerichtsverfahren und, später, die sichere Abschiebung.

Suche nach einer Notlösung

Die Einwohner von Murrieta aber leisteten Widerstand, als seien Schädlinge in ihr Dorf eingedrungen. Sie sperrten die Hauptstraße, brüllten "Dreht um" und "Geht nach Hause". Sie reckten US-Flaggen und Plakate in die Höhe. "Zurück an Absender", stand darauf, oder "Schützt eure Kinder vor Krankheiten". Weil es der Polizei nicht gelang, die Straßensperre aufzulösen, drehten die Busse schließlich um und fuhren weiter nach San Diego.

Viele Bewohner Murrietas beteuern, sie hätten nichts gegen Ausländer, doch müssten Fremde im Einklang mit dem Gesetz ins Land gelangen. "Es geht um legal gegen illegal. Punkt", sagte eine Frau bei einer stürmischen Bürgerversammlung nach der Busblockade. Andere fürchteten, die Illegalen seien Vorboten der Drogenkartelle, würden die Schulen überrennen, Läuse einschleppen. Andere empörten sich darüber, dass Obamas Regierung die Folgen ihrer gescheiterten Einwanderungspolitik auf kleine Gemeinden abwälze. Wieder andere zeigten sich beschämt über diese Zurschaustellung von Hass und Erbarmungslosigkeit gegenüber Kindern.

In der Zerrissenheit Murrietas spiegeln sich auch Washingtons politische Konflikte. Die Republikaner werfen Obama seit Jahren vor, dass er die Sicherheit an der Grenze vernachlässigt habe, dass er Illegale nicht mit der gebotenen Konsequenz abschiebe, dass man ihm schlicht in Einwanderungsfragen nicht trauen könne, weil er entweder naiv oder ideologisch blind sei. "Seit Jahren erzählt uns die Regierung, die Grenze sei noch nie so sicher gewesen. Das hat sich in den letzten drei Wochen als Trugschluss erwiesen", sagt der konservative Senator Marco Rubio.

Obama beteuert, er würde den Grenzschutz durchaus verstärken, wenn ihn das Parlament nur ließe. Im US-Senat hatten sich beide Parteien 2013 auf einen Gesetzentwurf geeinigt, der den Schutz der südlichen Grenze erheblich verstärken würde, unter anderem mit 20 000 zusätzlichen Beamten. Aber das mehrheitlich republikanische Abgeordnetenhaus im Kongress weigert sich, über diesen Entwurf auch nur abstimmen zu lassen.

Besonders der rechte Flügel der Partei stößt sich an dem Senatskompromiss, weil er neben Härte auch Milde walten ließe: Jene illegalen Einwanderer, die sich längst im Land befinden, sollen demnach eines Tages US-Staatsbürger werden dürfen. In vielen konservativen Wahlkreisen der USA oder in Gemeinden wie Murrieta ist diese Aussicht nicht vermittelbar. Eine Reform gilt inzwischen als aussichtslos, solange Obama das Weiße Haus bewohnt. Wie so oft also sucht man in Washington jetzt nach einer Notlösung.

Nicht noch mehr Nachahmer

Obama reist in dieser Woche durch Texas. Er hat zwar die Grenze und die überfüllten Auffanglager nicht besucht, aber immerhin den rechten Gouverneur Rick Perry getroffen, der ihm stets vorwirft, die Sicherheit an der Grenze zu vernachlässigen. Obama leitete den Vorwurf direkt nach Washington weiter: Der Kongress solle jetzt das Geld bewilligen, um die Krise zu entschärfen und endlich eine Reform verabschieden.

Wie es scheint, kommt der Flüchtlingsstrom beiden politischen Lagern gelegen: Jede Seite sieht sich darin bestätigt, dass die jeweils andere versagt hat. Amerikas Präsident setzt einstweilen auf Milde und Härte zugleich. Er weiß, dass die kleinen Alleinreisenden besonders verwundbar sind; der Staat, verlangt Obama, müsse sich um sie kümmern, "mit dem Mitgefühl, das sie verdienen".

Andererseits möchte er nicht noch mehr Nachahmer ermutigen, und deswegen wiederholt er seit Wochen, wie die Geschichte enden wird für die Kinder, die auf der Suche nach Sicherheit durch die Wüste gegangen sind: "Sie werden zurückgeschickt."

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Quelle:
SZ vom 11.07.2014/anri
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