Es lässt sich kaum behaupten, dass Marie-Luise Wolff der technische Fortschritt fremd wäre. Bei sich zu Hause in Darmstadt, nur zum Beispiel, hat sie Laternen mit Sensoren ausstatten lassen. Die Sensoren registrieren Glatteis auf der Straße. Und wenn früh um fünf die Straßen gefroren sind, dann bekommen auch die Kraftwerke Bescheid. Die erzeugen dann mehr Fernwärme zum Heizen.
Umso bemerkenswerter ist das Buch, das Marie-Luise Wolff geschrieben hat: "Die Anbetung". Wolff ist Chefin des Darmstädter Stadtwerks Entega, obendrein die Präsidentin des wichtigsten deutschen Energieverbands BDEW.
Ernährung:Mehr als Dosenravioli
Sind Fertiggerichte nur was für traurige Gestalten, die vor dem Fernseher sitzend ihr Essen verschlingen? Nicht mehr, sagen Experten - und geben Tipps für Kauf und Zubereitung.
In beiden Funktionen ist sie seit Jahren mit der Digitalisierung beschäftigt, und was sich aus ihr so rausholen lässt. Ihr Buch aber könnte genauso gut "Die Abrechnung" heißen - die Abrechnung mit der digitalen Welt.
Wolff geht es um die Auswüchse des technischen Fortschritts - und sie ordnet der Digitalisierung beachtlich viele dieser Auswüchse zu. Sie reichen von mangelnder Aufmerksamkeit, weil digitale Kleingeräte die Menschen zum Multitasking verdonnern, über die Geburt von Digitalkonzernen, die nicht nur mit Daten Geld verdienen, sondern auch mit heißer Luft, mit Potemkinschen Dörfern.
Wolff zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die sich der Convenience verschreibt, und darüber kulturelle Wurzeln zerstört - etwa, indem sie sich Essen aus durchrationalisierten Fließband-Küchen liefern lässt, statt noch selbst zu kochen oder ins Restaurant zu gehen. "Ich warte auf den Tag, an dem mir Amazon die Eiskugel mit dem Topping meiner Wahl an einem heißen Tag in den Zug liefert", schreibt sie an einer Stelle.
Im Fokus stehen "Weltmonopole"
Amazon, Facebook, Google, Apple - es sind allesamt amerikanische Konzerne, auf die es Wolff abgesehen hat. In ihrer Macht sieht sie "Weltmonopole", die nur noch schwer zu brechen sind. In dem Maße, in dem sich Konsum ins Internet verlagere, kämen auch ausgefeilte Methoden vermehrt zum Einsatz, um Entscheidungen von Verbrauchern zu beeinflussen.
Den psychologischen Hintergründen solcher Manipulationen, den Tücken des sogenannten Nudgings widmet sie einen langen Abschnitt in ihrem Buch. Und während hierzulande Innenstädte veröden, häuften Digitalkonzerne jenseits des Atlantiks Daten und Gewinne an. "Wahrscheinlich könnten Amazon oder Google für mich meine Steuererklärung anfertigen, so viel Wissen hat ihre Auswertungssoftware über mich gesammelt."
Wolff kennt große und digitale Konzerne. Acht Jahre lang arbeitete sie bei Sony, sie war bei Eon und deren Vorgängerin Veba, sie war ein Jahr lang Chefin des Energiediscounters "E wie einfach" - der seine Verträge natürlich auch in der digitalen Welt schloss.
Wie sich die Digitalisierung für die Energiewelt ausnutzen lässt, wie sich Angebot und Nachfrage in Einklang bringen lassen, und welche Angebote sich für die Kundschaft in "smarten" Wohnungen sonst noch so stricken lassen, das beschäftigt Wolff und ihre Branche seit Jahren. Man müsse verrückt sein, wollte man die Vorzüge des Internets und der Digitalisierung kleinreden, schreibt sie.
Eine Wolke des Unbehagens zieht über den Lesern auf
Was sie aber stört, sind die Mechanismen und Strukturen dahinter. Und auch die Männer, ihre Macht und die amerikanische Herkunft des Ganzen.
"Wenn man sich die manipulativen Winkelzüge der digitalen Führer einmal bewusst gemacht hat, wenn man die Verquickung der Erfindermänner mit einer nur noch hastig agierenden Finanzwirtschaft betrachtet oder das auf seltsame Missionen gestützte ,Sinnkonzept' der Convenience, dann wird es immer dringender, in Europa endlich wieder eigene vitale und innovative unternehmerische Konzepte zu entwickeln."
Es ist eine große Wolke des Unbehagens, die Wolff über ihre Leser aufziehen lässt, mit einem Schuss Kulturpessimismus und auch einer Prise nostalgischer Verklärung.
Aber in dieser Wolke ist auch vieles drin, was sich so eindeutig dann doch nicht den bösen Monopolisten in Amerika anlasten lässt. Sterbende Innenstädte gibt es schon seit der unglückseligen Ausweisung immer neuer Gewerbegebiete. Tesla ist nicht direkt ein Kind der Digitalisierung, bekommt aber trotzdem sein Fett weg.
Schlechte Manieren im Umgang mit Elektronik liegen nicht in der Verantwortung derer, die sie erfunden haben. Und dann braucht jedes Angebot, so manipulativ es sein mag, auch seine Nachfrager. Die Konsumenten haben sich auf die Digitalisierung schließlich eingelassen, sie nutzen viele der fragwürdigen Convenience-Angebote, weil sie - die Angebote wie auch die Konsumenten - eben bequem sind.
Der Verbraucher selbst aber kommt mit seiner "Anbetung" ungeschoren davon; gleichsam als Opfer findiger Entrepreneure. Ganz so einfach ist es aber nicht.
"Die Anbetung" ist letztlich ein sehr persönliches Manifest, eine Art Weckruf. Gerade die Ich-Form, die Wolff benutzt, unterstreicht den subjektiven Charakter des Buches. Und doch werden viele, die es lesen, sich und ihre digitalen Befürchtungen darin wiederfinden. Sie werden vieles erfahren über die - teils beängstigenden - Möglichkeiten dieser neuen Welt; geschrieben von einer Frau, der diese Welt letztlich gut bekannt ist.
Das wiederum macht das Ende des Buches geradezu sympathisch. Wolff hat dort Vorschläge zusammengetragen, was sich alles ändern muss - vom Verbot der Speicherung privater Daten über Vorgaben für die Nutzung künstlicher Intelligenz bis hin zur Steuerpflicht für Digitalkonzerne. Noch viel länger allerdings ist die Liste an Ratschlägen, mit denen Wolff ihren Leserinnen und Lesern wieder zu mehr analoger Autonomie verhelfen will.
Einer davon: "Beenden Sie die Macht ihres Smartphones."