Altkanzler Helmut Kohl:Ikone mit löchrigem Mantel

Vater der deutschen Einheit, Mitbegründer Europas. Helmut Kohl war ein Patriarch, der wusste, wer ihm nutzte. Er ist eine historische Größe, die das riskante Projekt "Euro" unbedingt wollte - ohne es klug zu fundieren.

Heribert Prantl

Die CDU feiert ihren Altkanzler. Sie tut das, weil der Beginn seiner Kanzlerschaft just dreißig Jahre her ist und weil das gut in den beginnenden Bundestags-Wahlkampf passt. Es geht bei diesen Feiern aber um mehr als um erhabenes Gefühl, Gänsehaut und schöne Fernsehbilder. Es geht um die Wirklichkeit, die sich erst im Gedächtnis formt.

Unions-Fraktion wuerdigt Altkanzler Kohl

Viel Lob für den Altbundeskanzler zum 30-jährigen Jubiläum.

(Foto: dapd)

Es geht um die Dimension der historischen Größe Helmut Kohls und um deren Ingredienzien. Es geht um die Bedeutung, mit der Kohls sechzehn Regierungsjahre aufgeladen werden sollen: Pater patriae, Princeps optime; Vater des Vaterlands und der deutschen Einheit, Mitbegründer Europas.

Hinter diesem Genius soll alles Kleingeistige, Krämerische, Spendenskandalische verschwinden. Der Mantel der Geschichte, von dem Kohl selbst so oft gesprochen hat, soll nun für immer über seine Schultern gelegt werden. Er hat das verdient. Aber: Geschichte besteht nicht nur aus Lobpreis, und ihr Mantel hat Flecken und Löcher.

Kohl, der Patriarch: Er war es schon, als er noch sehr viel jünger war. Jede Kritik, zumal aus der Partei, galt ihm als Akt der Illoyalität, weil es für ihn nur Gefolgschaft gab; wer ihm, dem politischen Lehensherrn, nicht jederzeit folgte, war nicht nur Gegner, sondern Verräter.

Das Umwerben und Umschmeicheln sparte sich Kohl auf für die, die er erst für sich gewinnen musste - sei es ein neuer Kreisvorsitzender oder ein womöglich für ihn brauchbarer Journalist; seien es Gorbatschow, Mitterrand und Bush. Mit diesen so unterschiedlichen Staatsmännern kam der Bundeskanzler Kohl glänzend zurecht, einfach weil er es wollte und deshalb ihre Seelen suchte und fand.

Helmut Kohl ist ein Mensch mit einem sehr konzentrierten Zeichenvorrat: Null oder eins, Schwarz oder Weiß, Gut oder Böse, Freund oder Feind, Krieg oder Frieden. Aus dieser Simplizität bei seiner Beurteilung der Dinge hat Kohl seine Kraft gewonnen. Und sein Gespür für Stimmungen hat ihm bei der deutschen Einheit geholfen; er hat schneller begriffen als alle anderen, was kommt.

Der Narr Europas

Und bei der Einigung Europas leitete ihn seine unerschütterliche Überzeugung, dass es um Krieg und Frieden geht. Diese Überzeugung, diese Mission war sein Antrieb für eine furiose, begeisterungsgewaltige Europa-Politik. Die Kritiker und nörgelnden Journalisten sah er bei den europäischen Gipfeln vor sich, sie schrieben von der "Eurosklerose", und (wie Kohl das im SZ-Interview beschrieb) "haben uns angeguckt mit einem milden Lächeln, in dem zu lesen war: Was wollen diese Narren? Gemeint haben die vor allem mich." Kohl war gern der vermeintliche Narr Europas, weil er wusste, dass seine EU-Politik nicht Narretei war, sondern Notwendigkeit.

Krieg oder Frieden? Die Jungen haben über diese Alternative zu schmunzeln begonnen, obwohl schon der Jugoslawien-Krieg ihnen das Schmunzeln hätte vergehen lassen müssen. "Europa ist ein Beitrag zu einer besseren Welt", hat Jean Monnet gesagt; der Satz könnte auch von Helmut Kohl sein. Aber dieser Beitrag zu einer besseren Welt ist noch nicht besonders groß. Europa hat in den zurückliegenden Jahrhunderten die Welt gestaltet und verwüstet. Daraus entsteht die Pflicht Europas, den Völkern am eigenen Beispiel zu zeigen, wie sie gut und solidarisch miteinander leben können.

Der Euro, ist er Kohls größter Fehler? Kohl war und ist der Überzeugung, dass die Einführung des Euro unumkehrbar ist. Deshalb wollte er ihn. Damit, so sagte er einst, hat "Europa den Rubikon überschritten". Alea iacta est - und er, Kohl, war es, der den Würfel geworfen hat. Er wollte es so, und die Unwiderruflichkeit des riskanten Projekts war ihm wichtiger als dessen kluge Fundierung. Er kannte vielleicht nicht die Gefahren des Euro, aber er kannte die Gefahr der Wankelmütigkeit der Politik und der Menschen. Der Euro ist für ihn Symbol und Garantie für Gemeinsamkeit und Frieden.

Eigentlich fehlen Kohl viele der Zutaten, die es für Charisma braucht. Sein Genie zeigte sich deshalb auch darin, dass er gleichwohl zu einem charismatischen Politiker wurde: auch dank seines ungeheueren Selbstbewusstseins. So wuchs er in die historische Größe hinein, die er sich schon zuschrieb, als er sie noch nicht hatte. So wurde er Lenker Europas, so wurde er die Autorität, die der EU von heute so fehlt. Er wurde zum Denkmal.

Das lässt ihn vielleicht verschmerzen, wie einsam es um ihn herum geworden ist - auch wenn sich seine junge Frau rührend um ihn kümmert, auch wenn die Ehrungen schier nicht mehr enden. Fast alle seiner engsten Weggefährten von einst hat er abgestoßen. Es bleibt ihm der Mantel der Geschichte; er hat ihn sich verdient. Und er möge ihn noch zu Lebzeiten gut wärmen.

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