Süddeutsche Zeitung

Interview am Morgen: Übergriffe in der Pflege:"Die Struktur begünstigt Gewalt in den Heimen"

Pflegende quälen Menschen, die sie eigentlich schützen sollten. Warum es immer wieder zu solchen Übergriffen kommt, erklärt Pflegewissenschaftler Jürgen Osterbrink.

Interview von Rainer Stadler

Alte Menschen, die ans Bett gefesselt und in ihren Ausscheidungen liegen gelassen, deren Wunden nicht fachgemäß behandelt wurden: Die Vorwürfe gegen drei ehemalige Pflegekräfte eines Seniorenheims in Celle haben bundesweit Entsetzen ausgelöst. Die Staatsanwaltschaft ermittelt in dem Fall. Jürgen Osterbrink, Professor für Pflegewissenschaft an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg, war von den Berichten nicht sonderlich überrascht.

Herr Osterbrink, Sie forschen seit Jahren zum Thema Gewalt in der Pflege. Wie erklären Sie sich die jüngsten Vorfälle in Celle, wo Bewohner eines Altenheims von Pflegenden schwer misshandelt wurden?

Jürgen Osterbrink: Als ich gelesen habe, was dort passiert sein soll, dachte ich sofort: Es hört niemals auf. Diese Fälle von Gewalt ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Versorgung von Schutzbedürftigen.

Warum misshandeln Pflegekräfte die Menschen, um die sie sich eigentlich kümmern, die sie beschützen sollten?

Ich konnte mit einigen Mördern sprechen, die in Pflege- und Medizinberufen gearbeitet haben. Eine Frau zum Beispiel, die wegen Mordes eine lebenslange Strafe verbüßt hatte, sie war 53 Jahre alt. Ich fragte, ob sie das, was sie getan hatte, wiederholen würde. Sie sagte: Ja, natürlich. Die alten Menschen seien ihr so auf die Nerven gegangen, sie habe sie nicht mehr ertragen können. Außerdem wären sie doch sowieso bald gestorben. Die Täter haben Gefallen daran, dass sie über Leid oder Wohl beziehungsweise über Leben oder Tod entscheiden. Es geht fast immer um Macht, wenn es zu körperlicher Gewalt kommt oder Bewohner vernachlässigt werden. In manchen Fällen ist es aber auch die eigene Ohnmacht der Täter, mit dem Leid der Menschen nicht mehr professionell umgehen zu können.

In dem Heim in Celle sollen Pflegekräfte auch entwürdigende Fotos und Videos mit Bewohnern gemacht haben.

Auch das ist nicht neu. Es gab in der Notaufnahme einer deutschen Klinik vor drei Jahren junge Pflegende, die Patienten absurd geschminkt, entkleidet und fotografiert haben. Die Bilder wurden dann über Whatsapp verschickt. Hier spielt der Aspekt der Verrohung des klinischen Alltags eine Rolle.

Interview am Morgen

Diese Interview-Reihe widmet sich aktuellen Themen und erscheint von Montag bis Freitag spätestens um 7.30 Uhr auf SZ.de. Alle Interviews hier.

Wie kommt es zu dieser Verrohung? Pflegekräfte ergreifen den Beruf doch nicht, um alte Menschen zu misshandeln.

Man muss sich vergegenwärtigen, wie sich die Struktur von Pflegeheimen verändert hat. Früher war es normal, dass man mit 70 in ein Altenheim kam und dort noch zehn gute Jahre erlebte. Heute kommen die Menschen wesentlich später mit hoher Krankheitslast ins Heim und sind demnach hoch pflegebedürftig. Die Verweildauer vieler Bewohner beträgt selten mehr als anderthalb Jahre. Das heißt, Pflegende können zu vielen Bewohnern kaum noch intensive Beziehungen aufbauen. Und natürlich stehen sie heute wesentlich stärker unter Druck als früher, weil in den meisten Heimen das nötige Personal fehlt. Diese Struktur begünstigt Gewalt in den Heimen, wenn der Druck nicht irgendwie abgefedert wird.

Wie lässt sich das bewerkstelligen?

Ich habe meine Pflegeausbildung Anfang der Achtzigerjahre abgeschlossen. Damals gab es sogenannte Balint-Gruppen und gezielte Supervision, insbesondere für Pflegende, die besonders belastet waren, etwa, weil sie auf Intensivstationen eingesetzt waren.

Balint-Gruppen?

Der Psychoanalytiker Michael Balint hat dieses Konzept entwickelt: Gruppen von Ärzten oder Pflegenden setzen sich regelmäßig zusammen, um über bestimmte Themen zu reden, etwa besonders schwierige Patienten oder Heimbewohner. Man konnte sich dort das Leid buchstäblich von der Seele reden. Doch die Idee ist in Vergessenheit geraten. Zudem kostet das natürlich Geld und lässt sich nicht über die Pflegekasse abrechnen. Aber dies ist ein Ansatz zur Gewaltprävention.

Reicht das? Oft scheint bei Misshandlung und Gewalt in der Pflege auch Gruppendynamik eine wichtige Rolle zu spielen.

Diese Erfahrung habe ich auch gemacht. Zum Beispiel im Wiener Krankenhaus Lainz, das heute Klinik Hietzing heißt, wo vier Pflegehelferinnen Anfang der Achtzigerjahre fast 100 Patienten ermordeten. Das war eine geschlossene Einheit. Sie töteten, indem sie Patienten Insulin massiv überdosierten, oder, indem sie Patienten Wasser in den Mund füllten und dann Mund und Nase zuhielten. Das waren die Tötungsmethoden - da gruselt es einen. Sie hatten sich ein bestimmtes Wissen angeeignet, es gab Gruppengeheimnisse. Die Gruppe bestand aus einer gut ausgebildeten, aber aggressiven Leitfigur und drei Mitläuferinnen, die aus schwierigen Verhältnissen kamen und auch teilweise selbst Missbrauchserfahrungen hatten. Solche und ähnliche Gruppendynamiken kann man bei Gewaltanwendungen im Gesundheitswesen bis heute beobachten.

Wie lässt sich eine solche Gruppenbildung verhindern?

Ich plädiere dafür, Pflegegruppen regelmäßig durchzumischen, alle drei bis sechs Monate. Ansonsten ist die Gefahr zu groß, dass sich die Menschen in einer Gruppe an Gewalt in all ihren Stufen, von verbaler Gewalt bis hin zur direkten körperlichen Gewalt, gewöhnen. Gewalttätige Pflegende erfahren ja selbst oft Gewalt in ihrem Arbeitsalltag.

Sie meinen von den Heimbewohnern?

Ja. Demenzkranke etwa zeigen oftmals herausforderndes Verhalten, ziehen an den Haaren oder an Ohrringen. Als Reaktion auf solche Übergriffe kommt dann die Gegengewalt, etwa das etwas zu feste Schlagen auf die Hand. Oder: Pflegende werden nicht selten von Bewohnern angegrapscht, die sie versorgen. Wenn diese Männer dann unter der Dusche stehen, kann es schon passieren, dass erst mal kaltes Wasser fließt. Es findet in den Heimen oft eine Art Revanche auf dieser Ebene statt. Das entschuldigt die Taten der Pflegekräfte nicht, aber kann sie zumindest teilweise erklären.

Läuft nicht jede Präventionsmaßnahme für Pflegeheime ins Leere, wenn dann in der Nachtschicht doch wieder eine Pflegekraft allein für 30 oder 50 Heimbewohner zuständig ist?

Ich sehe mit Besorgnis, dass einige Betreiber solche offensichtlichen Missstände ignorieren und oft schon zufrieden sind, wenn Umsatz oder Börsenkurs stimmen. Wir brauchen eine Neuorientierung des Pflegesystems. Näher am Menschen muss das Ziel sein. Sonst ist bald niemand mehr bereit, unter diesen Umständen in diesem Beruf zu arbeiten.

Haben Sie Hoffnung auf ein Umdenken in der Gesellschaft?

Bisher nicht. Man muss sich vorstellen: Es gibt Hersteller, die eine Windel auf den Markt gebracht haben, die bis zu fünf Liter Flüssigkeit aufnimmt. Das bedeutet, dass Pflegebedürftige bis zu 24 Stunden in ihrer feuchten Windel liegen können. Unsäglich! Das zeigt den Grad an gesellschaftlicher Vernachlässigung alter Menschen. Es wird damit ein Verhalten gefördert, das den alten Menschen die letzte Würde raubt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4957013
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/leja/cat
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.