Süddeutsche Zeitung

Altenpflege:Allein im Heim

Die Arbeitsbedingungen in der Altenpflege sind häufig prekär, gerade bei privaten Trägern. Verbesserungen scheiterten Ende Februar am Widerstand der Caritas. Seitdem kommt der katholische Verband nicht zur Ruhe.

Von Benedikt Peters

Bevor Svenja Fiedler im Altenheim Türen öffnete, schickte sie manchmal ein Stoßgebet zum Himmel: "Bitte, leb." Sie wusste, dass sie schon drei Stunden nicht mehr nach den Menschen gesehen hatte, den schwer dementen Männern und Frauen, die hinter den Türen lagen. Mindestens einmal in der Stunde sollte sie nach ihnen schauen. Aber es ging nicht, sagt sie.

Auf dem Papier waren sie mit zwei Pflegern zuständig für 21 Bewohner, in der Praxis war sie manchmal die einzige Fachkraft im ganzen Altenheim. Mal saß ein Dementer stundenlang in seinem Kot, mal fiel einer auf den Kopf und verletzte sich. "Das sind die Dinge, die du dann mit nach Hause nimmst", sagt Fiedler. Ihre Stimme klingt matt am anderen Ende der Telefonleitung.

Die Altenpflegerin Svenja Fiedler kann in dieser Geschichte nicht mit ihrem echten Namen auftreten. In dem Heim eines privaten Trägers in Hessen, wo es besonders schlimm war, hat sie zwar Anfang 2020 gekündigt. Inzwischen arbeitet sie bei der Caritas, und auch das ist in diesen Tagen durchaus heikel, wenn es um die Altenpflege geht. Die Bedingungen bei ihrem neuen Arbeitgeber seien zwar deutlich besser, sagt Fiedler. Es gebe mehr Personal und auch deutlich mehr Geld.

Dass die Caritas einen bundesweiten Tarifvertrag verhinderte, hat ihren Ruf "massiv beschädigt"

Die Caritas wird im Moment aber auch wahrgenommen als der Verband, der verhindert hat, dass es solche Bedingungen endlich bei allen Anbietern gibt. Ende Februar stimmte die Arbeitsrechtliche Kommission des katholischen Sozialverbands gegen einen Antrag, mit dem die Gewerkschaft Verdi und ein Arbeitgeberverband einen bundesweiten Tarifvertrag für die Altenpflege durchsetzen wollten. Das hätte dazu geführt - wenn auch die evangelische Diakonie zugestimmt hätte und der Vertrag nicht noch durch Klagen zu Fall gebracht worden wäre - dass die Mindestlöhne deutlich angestiegen wären. Davon hätten vor allem die privat angestellten Pflegekräfte profitiert. Sie werden schlecht bezahlt, vor allem auf dem Land, wo die Konkurrenz unter den Arbeitgebern kleiner ist.

Das weiß auch Svenja Fiedler, die in einer ländlichen Gegend in Hessen lebt. Sie erzählt von früheren Kollegen, die - Überstunden eingerechnet - 60 Stunden die Woche buckelten und am Monatsende auf 1200 Euro netto kamen. "Ich verstehe nicht, warum die Caritas den Tarifvertrag blockiert hat", sagt Fiedler. "Die hätten doch keinen Verlust dadurch gehabt, und für die Privaten wäre das zumindest ein Anfang gewesen."

Bei der Caritas herrscht nach dem Nein zum höheren Mindestlohn enorme Unruhe. Der Verband mit seinen knapp 700 000 Beschäftigten ist kein einheitlicher Block. Es gibt dort unterschiedliche Meinungen, viele können die Ablehnung nicht verstehen. Mitarbeitervertreter haben Brandbriefe verschickt, aus denen Wut und Enttäuschung spricht. Der Ruf der Caritas sei "massiv beschädigt", heißt es darin. 19 katholische Sozialethik-Professoren forderten, das Nein rückgängig zu machen. Selbst der Caritas-Präsident Peter Neher sagte der Zeit, er hätte anders entschieden.

Neher ist in einer schwierigen Lage, das merkt man ihm an, als er an einem Vormittag ans Telefon geht. Er hält die Glaubwürdigkeit der Caritas, die getreu der christlichen Werte für ein gutes Miteinander in der Gesellschaft kämpfen will, für beschädigt. In der Öffentlichkeit muss er nun eine Entscheidung vertreten, die er selbst nicht zu verantworten hat.

Für Tariffragen ist in der Caritas die Arbeitsrechtliche Kommission zuständig. Der höhere Mindestlohn scheiterte dort am Nein der Dienstgeber, also den Vertretern der Arbeitgeberseite. Der Caritas-Präsident ist ihnen gegenüber nicht weisungsbefugt, und er betont: "Ich muss diese Entscheidung akzeptieren."

Die Pflegekassen dürfen die kirchlichen Löhne nicht als unwirtschaftlich ablehnen

Ein Kernargument der Dienstgeber lautet, dass sich die Caritas-Altenpfleger wie Svenja Fiedler künftig Sorgen um ihre eigenen, höheren Löhne hätten machen müssen, hätten sie dem Tarifvertrag zugestimmt. Die Pflegekassen hätten dann, so die Befürchtung, nicht mehr die Caritas-Gehälter abgedeckt, sondern nur noch die neuen Mindestlöhne.

Schaut man ins Gesetz, bleibt jedoch unklar, woher diese Befürchtung rührt. Dort steht, dass die Pflegekassen die kirchlichen Löhne nicht als unwirtschaftlich ablehnen dürfen. Auf Nachfrage argumentieren die Caritas-Dienstgeber, dass sich das künftig ändern könne, da die Pflegekassen wegen der Corona-Pandemie unter hohem Kostendruck stünden. Der Pflegekassen-Spitzenverband GKV teilt hingegen mit, er werde weiterhin "tarifvertraglich vereinbarte Vergütungen finanzieren" - also auch die Löhne der Caritas.

Präsident Neher möchte nun den Blick nach vorne richten. "Die Arbeitsbedingungen in der Pflege kann man auch anders verbessern", sagt er. Die Bundesregierung müsse schnellstmöglich die Pflegekommission einberufen; diese solle einen neuen, höheren Mindestlohn für die Branche vereinbaren. Ein anderer Weg könnte über die Pflegereform von Jens Spahn (CDU) laufen, zu dem kürzlich ein Entwurf bekannt wurde. Der Gesundheitsminister will Pflegeanbieter verpflichten, nach Tarif zu zahlen.

"Wir brauchen endlich mehr qualifiziertes Personal. Und das geht nur mit anständigen Löhnen."

Die Frage ist allerdings, ob sich so wirklich etwas ändert. Mindestlöhne, wie sie der neue Tarifvertrag vorgesehen hätte - 18,75 Euro pro Stunde für ausgebildete Pflegekräfte, 14,40 Euro für Helfer - gelten über die Kommission als nicht durchsetzbar. Sie würden dort wahrscheinlich am Widerstand der Arbeitgeber scheitern.

Zudem üben mehrere Lager heftige Kritik an Spahns Reformplänen. Nach aktuellem Stand des Entwurfs könnten Anbieter zur Bezahlung der Beschäftigten künftig "irgendeinen Billigtarifvertrag" heranziehen, sagte Verdi-Chef Frank Werneke der SZ, oder sie könnten durch Verweis auf eine ortsübliche Entlohnung weiterhin unter Tarif bezahlen. Das befürchtet auch Caritas-Präsident Neher: "Die Tarifbindung muss ohne Wenn und Aber gelten. Eine Aushöhlung durch den Verweis auf ein 'ortsübliches Entlohnungsniveau' ist nicht akzeptabel", sagt er.

Für die Altenpflegerin Svenja Fiedler zählt am Ende nur eines, und um das zu erklären, muss sie kurz ausholen. Sie erzählt, was die Betreiber des privaten Altenheims taten, als sie keine Pflegekräfte mehr fanden, die für ihre Dumpinglöhne arbeiten wollten. Sie heuerten Zeitarbeiter an. Mal seien Betrunkene gekommen, mal Bauarbeiter, die nach einem Tag des Einlernens zu den Senioren ans Bett sollten. Da hielt sie es nicht mehr aus und kündigte. "Egal wie die Politiker sich das backen", sagt Fiedler am Telefon, "wir brauchen endlich mehr qualifiziertes Personal. Und das geht nur mit anständigen Löhnen."

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