Alltag mit Flüchtlingen:Wie die Deutschen mit den Flüchtlingen leben

Alltag mit Flüchtlingen: 24 Stunden, 24 Orte, 24 Geschichten aus dem Neuen Deutschland mit Flüchtlingen.

24 Stunden, 24 Orte, 24 Geschichten aus dem Neuen Deutschland mit Flüchtlingen.

(Foto: Stefan Dimitrov (Illustration))

Fußballspielen im Kloster, ein Discobesuch in Ingolstadt. Und wie reden Deutsche am Stammtisch über Flüchtlinge? SZ-Korrespondenten mit Episoden aus dem Neuen Deutschland.

Während das Klima rauer und die Angst lauter wird, hat sich an der Situation nichts verändert: Flüchtlinge kommen, wollen bleiben. Die SZ hat sich bei denen umgehört, die mit ihnen zu tun haben - den Deutschen. Wie gehen die, die hier wohnen, mit denen um, die kommen? Welche Erfahrungen haben sie mit den Neuen gemacht? Was regt die Bürger auf? Was treibt sie an? Am Ende ist eine 24-Stunden-Echtzeit-Reportage von 24 Orten entstanden. Einen Auszug aus den 24 Geschichten, die die Reporter mitgebracht haben, lesen Sie hier.

Freitag, 9. Oktober, 6 Uhr, Sankt Augustin: Morgenlob

Die meisten schlafen noch, was sonst, wenn die Zeit sich zieht wie Kaugummi. Der Nebel macht den Park zum Hexenwald, ein kleines rotes Haus steht da, davor nassglänzende Bobbycars und Roller. Bis Mai wohnten hier Nonnen aus China. Jetzt leben bei den Steyler Missionaren in Sankt Augustin bei Bonn sechs Kinder, deren Eltern, junge Männer, insgesamt 20 Menschen aus Afghanistan, Albanien, Mazedonien, Syrien, Irak, der Mongolei.

6.30 Uhr: Ein Licht geht an. Wenig später sitzen zwei Dutzend Männer in der dämmrigen Krypta und beten das Morgenlob. "O Gott, komm mir zu Hilfe." Weißhaarig in Strickjacken die Älteren, schwarzhaarig mit Hemd und Priesterkragen die Jüngeren. Sie kommen von den Philippinen und aus Afrika. Der Aufenthalt im Ausland ist im Orden Pflicht. Zehn Jahre soll sich jeder mal als Fremder fühlen.

Als sie im Sommer beschlossen haben, Flüchtlinge in ihrem Kloster aufzunehmen, gab es trotzdem auch Bedenken. Einige der Alten hätten Angst ums geregelte Leben gehabt, sagt Martin Üffing, ein Pater wie ein Bär. Außerdem stand die Frage im Raum: Sollen wir die Flüchtlinge missionieren? Sie haben sich für die Flüchtlinge und gegen das Missionieren entschieden. Auf den langen Fluren des Klosters hallen Kinderstimmen. Kreuzkatholische Philippiner kicken mit muslimischen Syrern. Ein palästinensischer Arzt hält Sprechstunde. In Schwester Nicolina aus Kroatien hat Marcello, der fünfjährige Sohn einer Albanerin und eines Palästinensers, eine Ersatzoma gefunden. Bald werden auf dem Sportplatz des Klosters Container für 80 Menschen stehen und hier so viele Flüchtlinge wie Seminaristen leben. Viele Jahre hat der Orden Priester in die Welt geschickt. Nun kommt die Welt zum Orden.

13 Uhr, München: Drei statt neun

Reza Karimitari ist aufgeregt. "Jetzt wird's spannend. Ich bin zum ersten Mal in der Klasse, das kann auch voll in die Hose gehen." Die Klasse, das sind vierzehn Jugendliche zwischen 16 und 18, zwölf Jungs, zwei Mädchen, die das Glück hatten, einen der 75 Plätze an der Münchner Flüchtlingsschule Isus zu ergattern. Die meisten sind ohne ihre Eltern geflohen. Lesen und schreiben können sie in lateinischer Schrift wie Erstklässler, Deutsch nur ein paar Brocken. Jetzt also 45 Minuten Deutsch. Der Lehrer sagt: "Auf dem Stundenplan steht 'Reza Deutsch'. Ist Deutsch mein Familienname?" Abdullah aus Afghanistan lacht, schüttelt den Kopf. "Nein, Unterricht." "Richtig."

Karimitari, selbst vor 30 Jahren aus Iran geflohen, schaltet Meditationsmusik an. "Am wichtigsten ist", wird er später sagen, "dass sich die Schüler geborgen fühlen. Viele haben noch nie eine Schule von innen gesehen und einfach Angst." Die beiden Mädchen etwa sprechen auch auf Nachfrage so leise, dass sie kaum zu verstehen sind. Als Karimitari Wortkärtchen auf den Boden legt und die Schüler bittet, damit Fragen zu bilden, rühren sie sich nicht. Fünf Minuten später packt ein Junge seine Tasche und verlässt den Raum. Es sind nicht nur die Traumata, die jeder Schüler mitbringt, es mangelt häufig auch an der Akzeptanz von Frauen und anderen Religionen. "Den Schülern unsere Werte vorzupredigen, bringt aber gar nichts." Diese Erfahrung hat Karimitari in vier Jahren als Isus-Lehrer gemacht.

Aber auch: "Die Schüler sind nicht dumm, sie sind extrem motiviert. Wenn wir sie lernen und arbeiten lassen, bauen sie ihre Vorurteile mit der Zeit von selbst ab." Neben Deutsch und Mathe stehen deshalb auch Ethik und Sport auf dem Stundenplan. Durch den Sport lernen die Schüler, vor allem die Mädchen, dass Körperkontakt hier normal ist, und sie treffen zudem deutsche Jugendliche. Innerhalb von drei Jahren schaffen 90 Prozent der Schüler den Hauptschulabschluss. "Drei statt neun Jahre", sagt Karimitari, "ist das nicht erstaunlich?"

18 Uhr, Uhlbach: Am Stammtisch

"In Uhlbach haben wir noch keinen Flüchtling gesehen", sagt Herbert Winkle, als Wirt hat er die Dinge ja immer im Blick. In Uhlbach enden eine Buslinie und ein paar Wanderwege, das Dorf gehört zu Stuttgart, doch die Stadt ist nur eine Ahnung hier, ein grauer Fleck am anderen Ende der Weinberge. In der Weinstube Löwen in der Trollingerstraße trudeln die Mitglieder des Freitagsstammtischs ein, Sachbearbeiter vom Daimler, pensionierte Volksschullehrerinnen.

Es heißt ja immer, manche Themen dürfe man nicht dem Stammtisch überlassen. Aber das kommt natürlich auf den Stammtisch an. Winkle sagt, beim Thema Flüchtlinge überlege jeder zweimal, was er sage: "Damit es nichts Falsches ist." Der Stammtisch hat ein eigenes Eck im Löwen, Messingplaketten ehren die Mitglieder, gerahmte Fotos die Verstorbenen. Teddys und Puppen wachen über die Runde. Ein Herr vom Daimler erzählt von Begegnungen mit strengen Muslimen auf Dienstreisen: "Man kann nur hoffen, dass die sich bei uns wirklich integrieren wollen." Winkle sagt: "Ich fürchte, es wird nicht so einfach, wie die Angie meint."

Dieser Freitag ist der Tag, an dem sich in Stuttgart herumspricht, dass die Stadt fünf Turnhallen als Notquartiere für Flüchtlinge nutzen muss. Es ist der Tag, an dem die Krise die Türschwelle vieler Stuttgarter erreicht. Schulsport wird ausfallen, Seniorenyoga, Vereinsfeste. In Uhlbach geht das Gerücht, ein leeres Haus in der Nähe des Löwen solle Unterkunft werden. Eine frühere Lehrerin sagt: "Jeder muss seinen Teil tun." Die Kellnerin kommt dazu, mit Schwung: "Die Flüchtlinge retten uns doch vor Überalterung!" Und ein paar hübsche Kerle seien auch dabei. Den Koch hält es nicht mehr in der Küche: "Wenn 80 Leute in der Weinstube sind, und einer will noch rein - sagen wir dann, tut uns leid, es ist voll?" Herbert Winkle seufzt leise. Dann sagt er: "Stimmt schon. Wenn einer in der Tür steht, schicken wir ihn nicht weg. Wir sagen: Wir kriegen dich schon noch irgendwie unter."

Neues Deutschland

24 Stunden, 24 Orte, 24 Geschichten: Lesen Sie die ganze Reportage in der digitalen Ausgabe.

1 Uhr, Ingolstadt: Rock im Amadeus

Hey, ich will dich tanzen sehen, scheppert es aus den Boxen. Mädchen mit kurzen Ballonröcken machen genau das, auf der Tanzfläche des "Amadeus" dreht sich ein Jesus-Typ im Kreis. Amir sitzt am Rand an der Bar. Er sagt, er sei ziemlich allein, im Amadeus, in Ingolstadt, überhaupt. Seit April lebt er hier, er hat sich durchgeschlagen aus dem Sudan bis nach Oberbayern. Er sitzt und schaut. Wenn ihn jemand anspricht, eine Frau noch dazu, dann will er reden, tanzen, flirten. "Aber das passiert mir nicht oft", sagt er, als "black man". Wie Amir stehen noch andere Flüchtlinge am Tresen. Jeder für sich. Dass sie alle ihre Heimat verlassen haben, macht aus einsamen Discogästen längst noch keine Gruppe.

Im Frühjahr ist das Amadeus in die Schlagzeilen geraten, bundesweit. Es hieß, der Wirt wolle keine Flüchtlinge mehr haben in seinem Rockkeller. Weil die Ballonrock-Mädchen sich immer wieder bedrängt gefühlt hätten, ein Sicherheitsproblem. Es gab ein Mordsgeschrei um das Amadeus und das Flüchtlingsverbot. Und dann eine gute Lösung: Der örtliche Afrika-Verein schickte Ausgeh-Lotsen, die zwischen den Flirtkulturen vermittelten. Seit Sommer sind die Lotsen überflüssig.

Jetzt scheint es, als feierten Gymnasiasten und Flüchtlinge aneinander vorbei. Doch dann kommt eine Horde kultureller Brückenbauer, sie tragen Lederhosen und Filzhüte und sprechen alkoholverwaschenes Bairisch. Der Burschenverein aus Bad Tölz beschließt seinen Ausflug in dem düsteren Schuppen. Burschenvereine stehen für Heimat, für Tradition, politisch sind sie ziemlich schwarz. Zu "99 Luftballons" zieht ein Bursche einen Dunkelhäutigen auf die Tanzfläche. Auch Amir bekommt Gesellschaft. Der sei schon okay, der Typ, sagt einer der Burschen, in dessen Handy Amir gerade seine Nummer tippt. Auch wenn es doch langsam bisserl viel sei mit denen, den Flüchtlingen. Sagt's und prostet seinem neuen Kumpel zu.

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