Darf man wider besseres Wissen fast ein halbes Jahrhundert lang schweigen? Darf man aus Furcht vor Repressalien selbst gute Freunde und ihre Bitten um Unterstützung ignorieren? Man kann davon ausgehen, dass einem Universitätswissenschaftler der 70er- und 80er-Jahre in der Bundesrepublik kein allzu großes Leid widerfahren wäre, hätte er sich kritisch mit einer Meinungsforscherin vom Bodensee befasst.
Dennoch hat Jörg Becker die Hinweise seiner amerikanischen Kollegen Dallas Walker Smith, Herbert Irving Schiller und George Gerbner, sich näher mit Elisabeth Noelle-Neumann zu befassen, bis über aller Tod hinaus ignoriert: "Alle drei Kollegen konfrontierten mich bereits in den jeweils ersten Stunden meines Sprechens mit ihnen mit der Doktorarbeit von Elisabeth Noelle-Neumann von 1940, verwiesen mich auf den darin enthaltenen Antisemitismus (...) Sie drängten mich außerdem dazu, ein kritisches Buch über Elisabeth Noelle-Neumann zu schreiben. Das versprach ich ihnen." Doch Becker wartete auf den Tag, an dem er nach seinen Worten "mit einer Freiheit des Alters zu eigener Freiheit findet, wenn man bei einer kritischen Veröffentlichung wie dieser nicht mehr Karrierenachteile fürchten muss."
Nach diesen langen Jahren des Wartens auf den Ruhestand erwachte dann doch noch der Furor in dem Autor, das Versäumte nachzuholen und die eigene Last um so wuchtiger dort abzuladen, wo sie seiner Meinung nach hingehörte: Auf Elisabeth Noelle-Neumann, von der nun doch spätestens seit ihrem Tod im Jahr 2010 keine allzu heftigen Repressalien mehr zu erwarten waren.
Horst Tappert als Kollateralschaden
Akribisch weist Jörg Becker nach, dass Noelle-Neumann an diversen Stellen ihre Biografie geschönt hat - ein nicht gerade seltener Umstand einer bei Kriegsende 29-Jährigen. Als Kollateralschaden wird en passant zwar Horst Tappert als Mitglied der SS-Division "Totenkopf" bloßgestellt - aber eine Enthüllung ähnlicher Dimension gelingt ihm bei seinem eigentlichen Studienobjekt nicht. Mehr als ein überschaubares Mitläufertum gibt die Quellenlage nicht her. Und das erzürnt den Autor offenbar, denn bis hin zur angeblich fehlerhaften Versteuerung einer Weihnachtslotterie durch den Gatten Neumann wurde wirklich jedes Steinchen umgedreht, jede Spur verfolgt.
Zeile um Zeile dient nur der Untermauerung des Vorhabens, eine Anti-Biografie zu schreiben. Auf eine Einordnung in gesellschaftlich-kulturelle Umstände der Zeit wird bewusst verzichtet. Ein Beispiel von vielen: Eine Umfrage des Instituts für Demoskopie zum Antisemitismus von 1949, zu der Becker feststellt: "Nicht zu akzeptieren ist auch Frage 4g: 'Manche Leute sagen, die Juden seien auf Grund ihrer Geschäftstüchtigkeit unbeliebt. Halten Sie das für richtig oder falsch?' Nun sind das Wort 'geschäftstüchtig' und seine Synonyme clever, findig, geschickt, pfiffig, smart, trickreich, wendig, gerissen, gewieft, durchtrieben oder verschlagen alle eindeutig negativ belegt. Antworten auf diese Frage 4g können also nur nach dem Prinzip einer self fulfilling prophecy ausfallen, haben also wenig mit der unvoreingenommenen Erforschung von Attitüden gemein."
Am Ende bleibt beim Leser der Eindruck hängen, Noelle-Neumann selbst hätte Juden als "gerissen", "trickreich" oder gar "durchtrieben" bezeichnet. Das hat aber nur Jörg Becker selbst so konstruiert.
Schreibstil: manipulativ
Dieser manipulative Schreibstil findet sich an vielen Stellen. Einem harmlosen Memoiren-Eintrag Noelle-Neumanns zu ihrem Umzug nach Tübingen 1945 setzt er eine Passage von Hannah Arendt entgegen, frei nach dem Motto: So geht Biografieschreiben! Findet er keine ausreichend schlimmen Zitate von Noelle-Neumann selbst, zitiert er eben ihren Doktorvater oder gleich "Mein Kampf" - irgendetwas wird schon auch an ihr hängen bleiben. Selbst der Sozialdemokrat Carlo Schmid wird durch ein paar Unterhaltungen mit Noelle-Neumann gleich zum Komplizen und vom Autor mit grobschlächtiger Vereinfachung in ein "politisch und moralisch fragwürdiges Licht" gerückt.
Selbstredend wird auch die Qualität der frühen Studien des von Noelle-Neumann gegründeten Institutes kritisiert, aber das wurde sie schon immer; und umstritten bleiben Methoden der Meinungsforschung vor allem unter Meinungsforschern wohl bis ans Ende aller Tage. Wer schlecht gemachten Studien glaubt oder sie gar in Auftrag gibt, stellt sich am Ende eh selbst ein Bein.
Und so möchte man auf nahezu jeder Seite des Buches in großen Lettern notieren: "ZU SPÄT". Es kommt einfach alles an diesem Buch zu spät und das wenige Überraschende zu verbissen. Wen interessiert das wirklich noch - außer denen, die schon immer am liebsten die Schlachten der Vergangenheit schlugen, statt dann aufzustehen, als man noch etwas hätte bewirken können? Aber da standen ja mögliche "Karrierenachteile" im Weg des Autors, der doch so gern über Mitläufer urteilt.