Manchmal entscheidet sich schon in der Schlange vor dem Kiosk, welche Richtung ein Parteitag einschlägt. Samstagvormittag in der Donauhalle in Ulm: Zwei Dutzend hungrige AfD-Mitglieder warten darauf, sich endlich mit Würsten, Semmeln oder Kaffee eindecken zu können. Die Stimmung ist mittelmäßig. Einer schimpft, weil eine Apfelschorle vier Euro kostet. Ein anderer, weil nur acht Kioskmitarbeiter da sind („für 800 Leute!“) und deshalb alles so lange dauert. Aber dann kommt zum Glück Alice Weidel.
Die AfD-Chefin betritt den Raum, schreitet links an der Schlange vorbei – und die schlechte Laune verwandelt sich in Euphorie. Die Wartenden spenden warmen Applaus, Weidel lächelt, fast überrascht. Sie winkt kurz, dann verschwindet sie hinter einer Glastür. Natürlich ist eine Kioskschlange keine repräsentative Infratest-Erhebung. Aber Weidel dürfte da schon ahnen, dass dieser Tag in Ulm nicht so unangenehm werden dürfte wie befürchtet.
Grundsätzlich läuft es gerade hervorragend für die 45-Jährige. Da sind die starken Wahlergebnisse der AfD in Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Da sind die aktuellen Umfragen, die ihre Partei bundesweit auf Platz zwei sehen, vor der SPD, vor den Grünen. Und seit vergangener Woche spricht alles dafür, dass Weidel das Privileg zufällt, die AfD als Spitzenkandidatin in den nächsten Bundestagswahlkampf zu führen. Darauf hat sie sich mit ihrem Co-Chef Tino Chrupalla geeinigt, nur der Bundesparteitag im März muss noch zustimmen.
Kanzlerkandidatin, das ist einerseits ein kühner Anspruch, schließlich lässt bislang keine andere Partei die Bereitschaft erkennen, mit der in Teilen rechtsextremen AfD zusammenarbeiten zu wollen. Andererseits ist die Botschaft unmissverständlich: Wir sind bereit für die Macht.
86 Prozent für Weidel – fast schon ein Liebesbeweis
Bevor Weidel offiziell als Kanzlerkandidatin bestätigt werden kann, muss sie zunächst mal die Aufstellungsversammlung ihres Landesverbands Baden-Württemberg überstehen. Eine Hürde, die keineswegs zu unterschätzen ist. In jeder anderen Partei käme so eine Nominierung zwangsläufig einer Krönung gleich. Aber in der baden-württembergischen AfD haben sie traditionell ein sehr spezielles Verständnis von parteilicher Geschlossenheit.
Ausgerechnet ihr Heimatverband bereitete Weidel zuletzt immer wieder Probleme. Im vergangenen Februar lief ein Parteitag in Rottweil so sehr aus dem Ruder, dass Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit aufkamen. Die Halle war so überfüllt, dass unklar war, ob stimmberechtigte Mitglieder abgewiesen wurden. Wieder mal eskalierte der alte Konflikt zwischen zwei verfeindeten Lagern, hier die Weidel-Unterstützer um die Landesvorsitzenden Emil Sänze und Markus Frohnmaier, dort die Weidel-Gegner um den Bundestagsabgeordneten Dirk Spaniel. Zwischendurch drehten sich Mitglieder gegenseitig das Mikrofon ab.
In Ulm soll diesmal alles besser laufen, geordneter, professioneller. Das Problem ist: Bei AfD-Parteitagen in Baden-Württemberg treffen sich keine Delegierten, theoretisch darf jedes der rund 6000 Mitglieder kommen. Das macht die Sache schwer kalkulierbar. Trotzdem hat sich die Landesspitze viel Mühe gegeben, den widerborstigen Verband zu zähmen. Aufsehen erregten im Vorfeld unter anderem E-Mails in verschiedenen Kreisverbänden, in denen zum einen für die Wahl Weidels geworben wurde. Zum anderen wurden Mitgliedern kostenlose Busfahrten zum Parteitag in Aussicht gestellt, inklusive Hotelübernachtung. Erwähnt wird auch ein „Reisekostenzuschuss in Höhe von 50 Euro“. Mancher Weidel-Gegner befürchtete, dass auf diesem Weg besonders viele Weidel-Fans nach Ulm gelockt werden sollten. Von „Busdemokratie“ war die Rede. Lässt sich so ein erneutes Chaos verhindern?
Der Parteitag beginnt dann zwar nicht pünktlich, aber für AfD-Verhältnisse bemerkenswert geschmeidig. Von den etwa 2000 Demonstranten, die laut Polizei nach einem Aufruf des „Bündnis Demokratie und Vielfalt“ für eine Kundgebung gegen die AfD vor die Halle gezogen sind, ist drinnen nichts zu hören. Die Wahl zum Versammlungsleiter, der Beisitzer und Schriftführer – alles ohne Probleme. Es ist kurz nach 12 Uhr, als Weidel auf die Bühne tritt. Sie bewirbt sich um Listenplatz 1. Einen Gegenkandidaten gibt es nicht, ein Wahlergebnis im Bereich „Mitte 70 Prozent“ wäre exzellent, heißt es aus ihrem Umfeld.
Die Rede, die Weidel hält, ist eine Mischung aus Angriff und Regierungsprogramm. Die Ampel opfere die wirtschaftliche Basis und den Wohlstand auf dem „Altar einer größenwahnsinnigen Klimaschutzenergiewende“. Spätestens seit den Wahlen im Osten „merken sie, dass die Uhr abläuft, und sie wollen noch so viel Schaden wie möglich anrichten“. Weidel beklagt die Transformation der Marktwirtschaft in eine „öko-sozialistische Plan- und Mangelwirtschaft“ und die Fragmentierung der Bevölkerung in eine „Multi-Kulti-Gesellschaft“.
Was eine Kanzlerin Weidel mit dem Land vorhätte? Eine „echte Wende“, verspricht sie, Deutschland werde „vom Kopf auf die Füße“ gestellt, mit gesicherten Grenzen, mit strikten Abschiebungen von Straftätern. Dem „Staatsvolk“ stellt Weidel mehr direkte Demokratie in Aussicht, ebenso wie eine Aufarbeitung der Corona-Politik. Der Schluss ihrer Sätze wird immer wieder verschluckt von lautem Applaus. Als Weidel fertig ist, erheben sich nicht alle der rund 900 stimmberechtigten Mitglieder, aber doch die allermeisten. Zwei besonders euphorische Weidel-Ultras in der zweiten Reihe skandieren „Alice, Alice“.
Als kurz darauf ihr ewiger Gegner Dirk Spaniel in einer Kampfkandidatur um Listenplatz fünf antritt, hat er längst erkannt, dass er an diesem Tag einen schweren Stand haben wird. Ihm sei im Vorfeld klargemacht worden, dass für ihn kein Platz mehr auf der Bundestagsliste sei, sagt Spaniel: „Mir fehlt die Loyalität zu Alice Weidel.“ Natürlich unterstütze er ihre Spitzenkandidatur, aber inhaltliche Kritik müsse doch möglich sein. Der Applaus bleibt spärlich, es gibt Buh-Rufe und Pfiffe. Spaniel unterliegt seinem Konkurrenten dann auch deutlich. Das Weidel-Lager triumphiert.
Sie selbst bekommt für ihre Bewerbung 759 Ja-Stimmen, nur 106 Nein-Stimmen, gut 86 Prozent. Für die AfD in Baden-Württemberg ist das nah dran am Liebesbeweis.