Algerien:"Schmeißt die Generäle auf den Müll"

Algerien: Das Volk klagt seine Rechte ein: Eine Algerierin fordert den Schutz der Menschenrechte und eine zivile Regierung für das nordafrikanische Land.

Das Volk klagt seine Rechte ein: Eine Algerierin fordert den Schutz der Menschenrechte und eine zivile Regierung für das nordafrikanische Land.

(Foto: Ryad Kramdi/AFP)

Der Armeechef will Präsidentschaftswahlen abhalten und so die Dauerproteste gegen das alte Regime beenden. Aber das Volk spielt nicht mit und zieht Freitag für Freitag auf die Straße.

Von Paul-Anton Krüger

Algerien hat sich seine Unabhängigkeit blutig erkämpft, den Krieg gegen Frankreich nennen die Menschen auf arabisch "Befreiungsrevolution". Am 1. November, einem Freitag, jährte sich nun der Beginn des Aufstands gegen die Kolonialmacht zum 65. Mal. Es ist ein offizieller Feiertag, zelebriert vom Regime. Die Algerier aber nutzten den Tag, um zu Hunderttausenden auf die Straße zu gehen: Als Protest gegen die politische Elite, deren führende Köpfe aus der Zeit der Befreiungsrevolution stammen. Diese Elite hat über die Jahrzehnte ein undurchschaubares kleptokratisches System errichtet, das die Bürger, verängstigt und verächtlich zugleich, nur le pouvoir nennen: Die Macht.

Nutznießer dieses Systems ist eine Clique aus Politikern, Offizieren des Militärs und des Geheimdienstes sowie deren Entourage aus Geschäftsleuten. Sie teilen sich Macht und Reichtum. Die Algerier wollen dem Pouvoir ein Ende setzen seit der ersten Großdemonstration am 22. Februar - und rufen nach einer neuen Revolution. "Algerien wird seine Unabhängigkeit zurückgewinnen!", lautet einer der Slogans. Die Proteste sind seit ihrem Beginn nie zum Erliegen gekommen; Freitag für Freitag gehen Menschen auf die Straße.

Und jetzt erhalten sie sogar wieder mehr Zulauf. Allein in der Hauptstadt Algier waren es zuletzt mehr als 100 000 Demonstranten, an diesem Freitag dürfte die empörte Masse weiter anschwellen. Denn Generalstabschef Ahmed Gaïd Salah, 79, der starke Mann, hat klargemacht, dass er die für 12. Dezember geplante Präsidentenwahl durchziehen will: Sie musste schon im April und im Juli abgesagt werden, die Demonstranten hatten den Rückzug des greisen Staatspräsidenten Abdelaziz al-Bouteflika erzwungen. Der Generalstabschef will die Phase der Ungewissheit beenden und die Proteste dazu. Er erklärt, Wahlen seien "der einzige Ausweg aus der Krise" und hätten die "volle Unterstützung" des Volkes. Und das, obwohl die Demonstranten jeden Freitag "Keine Wahlen!" skandieren: Der Offizier sucht die Machtprobe. Und er droht. Wer sich den Wahlen entgegenstelle, werde eine "abschreckende Strafe" erfahren. Übergangspräsident Abdelkader Bensalah erklärte die Gegner einer Wahl sogar zur "Minderheit".

Der Generalstabschef will die Proteste beenden, droht und sucht die Machtprobe

Der Armeechef hatte versucht, den Protesten den Antrieb zu nehmen, indem er eine Reihe prominenter Figuren des alten Regimes aburteilen ließ. Seit April sind mehr als 30 frühere Spitzenfunktionäre und Geschäftsleute zu Haftstrafen verurteilt worden, unter ihnen ein Dutzend Ex-Minister. Den jüngeren Bruder des Ex-Präsidenten, Said Bouteflika, verurteilte ein Militärgericht zu 15 Jahren; dieselbe Strafe erhielten der berüchtigte frühere Geheimdienstchefs Mohammed Mediène alias Toufik und sein Nachfolger Athmane Tartag. Der ins Ausland geflohene Ex-Verteidigungsminister Khaled Nezzar bekam 20 Jahre.

Die Protestbewegung ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie sieht in den Urteilen das Begleichen alter Rechnungen in den Reihen des Regimes. Ziel sei allein der Machterhalt. Bis heute nur lose organisiert, ohne benennbare Führungsfiguren und ohne klares Programm, lehnt sie Wahlen ab, die vom System organisiert werden; diese könnten weder frei noch fair sein. In dieser Einschätzung dürften sich die Demonstranten durch die Entscheidung der offiziell unabhängigen Wahlkommission bestätigt sehen. Von 23 Bewerbern ließ sie nur fünf als Kandidaten zu. Allen Kandidaten ist gemein, dass sie zur alten Garde um Bouteflika gehören oder zumindest fest im Regierungslager stehen, der Armee mithin als politisch zuverlässig gelten.

Chancen werden dem ehemaligen Premier Ali Benflis, 75, eingeräumt, der sich 2003 mit Bouteflika überworfen und gegen ihn kandidiert hatte. Auch Abdelmadjid Tebboune, 73, wird genannt, er fungierte unter Bouteflika als Regierungschef. Antreten dürfen auch Ex-Kulturminister Azzedine Mihoubi, 60, und der frühere Tourismusminister Abdelkader Bengrina, 59, ein moderater Islamist, dessen Partei die Regierung stützt. Ebenfalls zugelassen: Abdelaziz Belaïd, Chef der Zukunftspartei, die der Koalition unter Führung der Nationalen Befreiungsfront (FLN) angehört.

Forderungen der Demonstranten nach einer echten Verfassungsreform, die Bouteflika in den letzten Tagen seiner Amtszeit auf den Weg zu bringen versuchte, lehnt Armeechef Gaïd Salah ebenso ab wie die weniger ambitionierten Pläne von Interimsstaatschef Bensalah für einen "nationalen Dialog". Nun fordern die Demonstranten auch Bensalahs Rücktritt und den von Premier Noureddine Bedoui dazu.

Die Polizei versuchte bisher vergeblich, die Proteste zu unterbinden. Sie sperrte Straßen im Zentrum von Algier und die Metro, unterbrach den Zugverkehr in die Hauptstadt, legte das Internet lahm. Zudem geht das Regime gegen bekanntere Köpfe der Protestbewegung und gegen Journalisten vor. Menschenrechtler haben Dutzende Verhaftungen dokumentiert, es gibt mit bis zu 15 Jahren Haft erste harte Urteile gegen Aktivisten. Inzwischen streiken Anwälte, Staatsanwälte und Richter gemeinsam für eine unabhängige Justiz.

Und die Demonstranten brechen ein letztes Tabu: "Schmeißt die Generäle auf den Müll!", riefen etliche oder "Gaïd Salah, geh nach Hause!" Die Erinnerung an den jüngsten Bürgerkrieg, der 2002 mit geschätzt 150 000 Toten endete, ist der jungen Generation nicht mehr präsent, 70 Prozent der 43 Millionen Algerier sind unter 30, ein Viertel jünger als 15. Während allerdings ein junger Akademiker vor 20 Jahren mit einer Stelle vom Staat rechnen konnte, bezahlt aus den Öl- und Gaseinnahmen, sind heute über ein Viertel der Algerier unter 30 arbeitslos. Das befeuert den Frust. "Dieses Jahr finden keine Wahlen statt!", skandieren die Demonstranten. Vieles deutet darauf hin, dass sie der Machtprobe mit Armeechef Gaïd Salah nicht aus dem Weg gehen werden.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: