Alfred Grosser, 87, geboren in Frankfurt/Main, ist Publizist und Politikwissenschaftler. Seine Eltern und Großeltern waren Juden, 1933 emigrierte die Familie nach Frankreich - heute lebt Grosser in Paris. In seinem 2009 erschienenen Buch "Von Auschwitz nach Jerusalem" (Rowohlt) beschäftigte er sich vor allem mit der Frage, wie scharf man Israel kritisieren dürfe.
SZ: Herr Grosser, haben Sie überhaupt Lust, sich zu Günter Grass und seinem Text zu äußern?
Alfred Grosser: Ja ja, sehr. Ich bin auf Seiten von Grass und das Pro ist in dieser Diskussion doch sehr schweigsam gewesen. Außer in der Zeitung Haaretz, die sich auch fragt: Ist unsere Regierung verrückt geworden?
SZ: Warum stehen Sie auf Seiten von Grass?
Grosser: Weil er etwas Vernünftiges gesagt hat in seinem sogenannten Gedicht. Es ist natürlich kein Gedicht, aber was darin steht ist doch viel wichtiger als die Form: Die israelische Regierung provoziert. Doch was passiert, wenn sie Iran wirklich angreift und was ist, wenn Iran dann Raketen hat, mit denen es Tel Aviv angreifen kann? Dann ist der Krieg los.
SZ: Sachliche Kritik an israelischer Politik ist doch aber kein Tabu, auch nicht in Deutschland.
Grosser: Es heißt aber immer sofort, das sei Antisemitismus. Ich kann die Aufregung ja verstehen, aber nicht jede Kritik. Die wirklich schlimmste Reaktion ist die von Marcel Reich-Ranicki, der in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung behauptet, Grass würde den Judenstaat attackieren.
Israel ist, wie es der zionistische Vordenker Theodor Herzl sagte und auch David Ben-Gurion, kein Judenstaat - sondern ein Staat, der allen Juden offensteht. Außerdem kann ich nicht sehen, wo Grass gegen die Juden vorgeht. Er kritisiert die israelische Regierung, das hat er auch im Nachhinein noch einmal deutlich gemacht. Reich-Ranicki sagt, Grass sei ein ewiger Antisemit - das ist doch Quatsch.
SZ: Was genau stört Sie an der Kritik?
Grosser: Ich frage mich, warum die Angriffe gleich unter der Gürtellinie sein müssen. Reich-Ranicki nennt Grass einen Werbestrategen in eigener Sache - obwohl dessen Kritik genau so in Haaretz steht. Vielmehr ist ja die israelische Regierung hier der Werbestratege: Um von der eigenen Politik etwa gegen die Siedler abzulenken, braucht man die Gefahr aus Iran.
SZ: Und die deutsche Regierung?
Grosser: Gegen das auch von Helmut Schmidt krititsierte "Right or wrong - my country!" sollte doch die Formel gelten, die Joachim Gauck 2010 in einer Laudatio auf den Schriftsteller David Grossmann zitiert hat: "My country, right or wrong. If right - to be kept right; and if wrong - to be set right." Und nochmal: Es geht nicht um die Juden, sondern um die Regierung des Staates Israel. Wie oft höre ich in Deutschland: Sie dürfen dies und das sagen, Herr Grosser, wir dürfen das nicht.
SZ: Was antworten Sie dann?
Grosser: Ich frage: Wer hindert sie denn daran? Wo war zum Beispiel die Kritik bei der Lieferung des letzten Unterseeboots von Deutschland an Israel? Da gab es ein bisschen Kritik von den Grünen, sonst nichts. Auch wenn ich bei Ihnen im Land in Gymnasien bin, fragen mich Primaner, wie man als Deutscher mit Israel umgehen müsse. Denen sage ich, dass sie keine Schuld tragen, dass sie aber die Pflicht haben, an Hitler und das Dritte Reich zu denken und heute die Menschenwürde überall zu verteidigen. Das gilt dann aber bitte auch für die Palästinenser. Und wenn Israel solche Werte vertritt, dann bitte auch gegenüber den Palästinensern.
SZ: Werfen Sie auch Grass etwas vor?
Grosser: Vielleicht, das er seine Mitgleidschaft in der Waffen-SS zu lange verschwiegen hat. Aber da muss man ergänzen: Es gab damals 900.000 junge Deutsche, die in der Waffen-SS waren, nicht aber in der SS.
SZ: Wie Grass jetzt, haben Sie 2010 eine ähnliche Aufregung selbst erlebt. Da sprachen Sie bei der Gedenkfeier zur Erinnerung an die Reichspogromnacht. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hatte versucht, dies zu verhindern, weil Sie deutliche Kritik an der israelischen Palästina-Politik geäußert hatten.
Grosser: Meine vier Großeltern und meine Eltern sind Juden und es hieß dann, meine Kritik sei jüdischer Selbsthass. Da habe ich gesagt, dass ich mich selbst viel zu sehr liebe, als dass ich Selbsthass empfinden könnte. Ich bin jedenfalls weniger angegriffen worden damals, außer von Henryk M. Broder, aber Broder greift alles an, was herumläuft. Und dann ist ja alles gut gelaufen, weil ich friedlich formuliert habe. Ich bin noch nie so schlecht behandelt worden wie Grass jetzt.
SZ: Bei der Veranstaltung war auch Dieter Graumann zugegen, der bald danach Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland wurde.
Grosser: Graumann sagte, die Reaktionen des Zentralrats würden dann nicht mehr so hart sein. Jetzt sind sie es doch wieder, das finde ich schade. Ich würde mir übrigens wünschen, dass der Zentralrat endlich seinen Namen ändert in Zentralrat der jüdischen Deutschen - so, wie sich Ignatz Bubis selbst gesehen hat.
SZ: Wie wird die Diskussion um Grass in Frankreich aufgenommen?
Grosser: Es gibt ein paar kleinere Artikel, die eher auf der Seite von Grass sind und die ganze Emotion in Deutschland nicht verstehen können. Die Kritik an Israel - nicht am Judentum - ist hier alltäglich. Kritiker wie ich gelten da vielleicht mal als Antisemiten. Wir werden aber nicht angegriffen, weil wir würdige Bürger der Franzözischen Republik sind. In Deutschland ist das anders, weil es dort heißt, als Deutscher dürfe man Israel nicht angreifen.
SZ: Grass sagte in einem Interview, in Frankreich sei es "Alfred Grosser, der deswegen isoliert wird". Da empfinden Sie also anders?
Grosser: Ich glaube nicht, isoliert zu sein, jedenfalls nicht in Frankreich. Und in Deutschland habe ich seit einem halben Jahrhundert Narrenfreiheit, da kann ich machen, was ich will.