Süddeutsche Zeitung

Das Politische Buch:Ein Rätsel im Kampfanzug

Wolfram Pyta und Nils Havemann legen eine erstaunliche Biografie über Alfred Dregger vor. Sie zeichnen den CDU-Hardliner als Mann mit "natürlicher Führungsbegabung" und schwanken trotz aller reaktionärer Auftritte des Hessen zwischen Befremden und offener Bewunderung.

Von Ralf Husemann

Den Autoren war bewusst, dass es nicht eben einfach werden würde, ihrem "Desiderat", also ihrem Wunschobjekt, gerecht zu werden, ohne etwas beschönigen zu wollen. "Denn wer will sich schon ernsthaft mit einem Reaktionär und Nationalisten abgeben", fragen sie betont provokant, aber nicht wirklich ernst gemeint, in der Einleitung ihres fast 600 Seiten dicken Wälzers. Es geht um "die" Reizfigur der deutschen Nachkriegsgeschichte, es geht um Alfred Dregger (1920-2002).

Das Besondere an ihm: Obwohl ein sehr bekannter Politiker, hielt sich seine Karriere in Grenzen: Oberbürgermeister von Fulda, viermal erfolgloser CDU-Spitzenkandidat für das Ministerpräsidentenamt in Hessen, immerhin CDU-Landesvorsitzender in Hessen und schließlich Fraktionschef der Unionsparteien im Bundestag. Das war es aber auch schon, nie Minister, nicht einmal Staatssekretär. Die Autoren Wolfram Pyta und Nils Havemann wirken angesichts ihres Protagonisten so hin- und hergerissen zwischen Befremden und offener Bewunderung, wie es wohl auch die deutsche Öffentlichkeit lange Zeit war.

Der an der Uni Stuttgart lehrende Geschichtsprofessor Pyta machte 2019 von sich reden, als er als einziger von vier Gutachtern bestritt, dass Kronprinz Wilhelm von Preußen, Sohn des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II., der Nazi-Diktatur "erheblichen Vorschub geleistet" habe. Unter anderem hatte Pyta die originelle These aufgestellt, dass der Kronprinz wegen seiner Unpopularität Hitler mit seiner Unterstützung eher geschadet habe. Dazu der Freiburger Historiker Ulrich Herbert: "Darauf muss man erst mal kommen."

Der Mann von der "Stahlhelmfraktion"

Der 62-jährige Pyta schrieb zudem eine bemerkenswerte Biografie über Paul von Hindenburg - offenbar hat er ein Faible für auffällige Personen der Zeitgeschichte. Der fünf Jahre jüngere Politikwissenschaftler Havemann wurde durch eine Studie zum Thema "Fußball unterm Hakenkreuz" bekannt.

Zurück zu Dregger: Auf der einen Seite geht es den beiden Autoren darum, ein "Feindbild" zu korrigieren: Ein "Spätberufener", der erst mit Mitte 30 in die CDU eintrat, der fälschlicherweise von seinen Gegnern zum "Prototypen eines Reaktionärs", der den Rechtsstaat demontieren wolle, zum unberechenbaren "Law-and-Order-Mann", zum "Django" oder zum Mitglied der "Stahlhelmfraktion" verzerrt worden sei. Stattdessen werden Superlative über den Protagonisten, vor allem in seiner Eigenschaft als langjähriger Chef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion (1982 bis 1991), ausgegossen: Der "unbeugsame Mahner" für die Freiheit und die Einheit der Nation sei "wortgewaltig", zugleich "sprachsensibel" und ein "bundespolitischer Trendsetter" gewesen, zwar "kein Ideenschmied", aber dennoch mit "eigenem Gestaltungswillen" und - dieses Lob zieht sich durch das gesamte Buch - ein Mensch mit "natürlicher Führungsbegabung".

Letzteres befremdet insofern, weil Dregger nach Überzeugung der Autoren den Führungsstil, den er als Frontsoldat gelernt habe, auch als Fraktionschef habe pflegen können. Zwar sei eine Fraktion "keine militärische Kampfeinheit", heißt es, aber das "Konzept der Kameradschaft" sei übertragbar. So werde eine funktionierende Gemeinschaft gebildet, die aber "notwendige Hierarchien" nicht aufhebe. Die gerne militärische Floskeln ("antisozialistische Kampfbrigade") benutzenden Autoren sehen Dregger im "Kampfanzug", der ihm auf den Leib geschnitten gewesen sei. In auffallendem und nicht sehr glaubwürdigem Kontrast hierzu heißt es, dass er gleichwohl "jede schroffe Freund-Feind-Konfrontation" abgelehnt habe.

So wohlwollend das Kontinuum vom Hauptmann und Bataillons-Kommandeur Dregger zum fairen und freiheitsliebenden Unionspolitiker betrachtet wird, so schroff können die Autoren aber auch auf Distanz gehen. Begriffe wie "Sicherheit", "Freiheit" oder "Frieden" müssten "losgelöst von jedem Kontext als bloße Schlagwörter erscheinen". Wie flexibel für Dregger die immer wieder pathetisch beschworene "Freiheit" war, offenbarte er, als er 1977 und 1979 dem Apartheid-Staat Südafrika sowie Chile und Argentinien, wo die verbrecherischen Militärdiktaturen viele Tausend Menschen ermordeten, seine Aufwartung machte. Die Autoren versuchen Dreggers Unsensibilität damit zu erklären, dass für ihn die Menschenrechtsfrage außerhalb von Europa nur eine untergeordnete Rolle einnahm, wobei sie einräumen, dass er auch die repressiven Systeme in Griechenland, Spanien und Portugal "mit außerordentlicher Milde" betrachtet habe. Für Dregger ging es immer darum, einen "ideologischen Angriffskrieg des Weltkommunismus" abzuwehren. Wobei der bedrohliche Sozialismus für ihn schon bei der paritätischen Mitbestimmung in Wirtschaftsunternehmen begann.

Ausführlich würdigen die Autoren anhand der von 1972 bis 1994 vollständig aufgezeichneten Fraktionssitzungen das Geschick und immer wieder die "Führungsbegabung" Dreggers. Als ein Highlight gilt ihnen dabei, dass der "Kanzlerkandidatenmacher" zum Zeitpunkt, als Helmut Kohl noch Fraktionschef war, es schaffte, Franz Josef Strauß als Nummer eins für die Bundestagswahl 1980 durchzusetzen. Das war ein Prestigeerfolg für Dregger, aber nicht für die Unionsparteien, die zwar erneut stärkste politische Kraft wurden, aber weiter einen Kanzler Helmut Schmidt hinnehmen mussten. Auch dass sich Dregger nach der deutschen Vereinigung vehement für Berlin als künftige Hauptstadt (mit einigen Zugeständnissen an Bonn) einsetzte, wird ihm hoch angerechnet. Wobei bei allem Lob für Dreggers geschickte Regie der knappe Abstimmungssieg für Berlin (338 gegen 320 Stimmen) doch vor allem einem anderen zugeschrieben werden muss: "Es war Schäuble, der die gemeinsam gesäte politische Ernte einfahren konnte."

Die "Ehre" der Wehrmacht hielt er zeitlebens hoch

Schwerpunkt und "Herzstück" des Buches ist für die beiden Autoren die Fraktionsarbeit. So unstreitig wichtig diese für eine funktionierende parlamentarische Demokratie auch ist, so interessiert bei der Person Dregger (seit 1940 NSDAP-Mitglied, was er bis zu seinem Tod leugnete) deutlich mehr, wie er seine Zeit als Frontoffizier sah. Er wurde nie müde, die "Ehre" der deutschen Wehrmachtssoldaten zu beschwören - was, wie Pyta und Havemann leicht fassungslos feststellen, "immerhin implizierte, dass sie keine Kriegsverbrechen begangen und sich nicht an der Zivilbevölkerung vergriffen hatten". In seinen zahlreichen Feldpostbriefen teilt Dregger mit, dass er ein "begeisterter Soldat" sei, es gebe "nichts Schöneres als Kompaniechef zu sein", er spricht vom "ritterlichen Charakter" und dem "Anstand" der Truppe, erwähnt aber, wie auch die Autoren monieren, die massenhaften Morde an den Juden "mit keinem Wort". Dregger müsse, als er bei seinen Fahrten nach Hause auch Polen und Weißrussland durchquerte, "mit Blind- und Taubheit geschlagen gewesen sein, wenn ihm solche Geschehnisse vollkommen entgangen wären". Außerdem seien etwa in der 6. Infanteriedivision, der Dregger angehörte, Erschießungen sowjetischer "politischer Kommissare" schon im Sommer 1941 "aktenkundig" geworden.

Es gäbe noch viele gruselige, auch von den Autoren hervorgehobene, Zitate, die aber deren überraschender Hauptthese widersprechen, Dregger sei kein Rechtsradikaler, ja nicht einmal ein Konservativer, sondern vielmehr ein "Nationalliberaler" gewesen. Nicht umsonst beriefen sich aber immer wieder rechtsextremistische Kreise auf Dregger, wenn er etwa den deutschen Vernichtungskrieg zu einem Kampf zur "Verteidigung Deutschlands" stilisierte oder sich gar über "die zynische Einseitigkeit unserer Nationalmasochisten" echauffierte.

Weder Rechtsradikaler noch Konservativer?

In der Bundestagsdebatte vom 13. März 1997, die Pyta/Havemann eine der "Sternstunden des Parlamentarismus" preisen, wurde über die damals heftig diskutierte "Wehrmachtsausstellung", aber auch über die Tiraden des Kollegen Dregger debattiert. Das Plenum bedachte ihn mit Beifall, als er plötzlich überraschend ein kleines bisschen Einsicht zeigte: "Ich will (...) bekunden, dass die Kritik, die an mir geübt worden ist, von mir geprüft werden wird, dass ich sie nicht schlankweg zurückweisen werde." Obwohl Dregger, inzwischen fast 78, noch einmal bei der Bundestagswahl 1998 antreten wollte, machte seine Partei nicht mehr mit. Sein Nachfolger im Bundestag wurde allerdings ein gewisser Martin Hohmann. Das war keine gute Wahl, weil der sich mit einer verschwurbelten Logik 2003 unfreiwillig als Antisemit outete und deshalb aus der Fraktion ausgeschlossen wurde. So einen Nachfolger hatte selbst Dregger nicht verdient.

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