Ein Jahr nach dem Tod Alexej Nawalnys:„Die Zeit ist auf unserer Seite“

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„Auswandern habe ich gar nicht in Betracht gezogen“: Auch Nawalnys Mitstreiterin Xenia Fadejewa kam ins Gefängnis, wurde aber 2024 ausgetauscht, hier vor Gericht in Tomsk. (Foto: WLADIMIR NIKOLAjeW/AFP)

Sie arbeitete mit dem russischen Oppositionsführer, war Politikerin in Sibirien – und kam selbst ins Gefängnis.  Xenia Fadejewa blickt auf Nawalny, die Lage in Russland und die Zukunft.

Interview: Silke Bigalke, Moskau

Xenia Fadejewa war nicht nur Mitstreiterin von Alexej Nawalny. Sie leitete sein Büro im sibirischen Tomsk und war einer der letzten Menschen, die Nawalny in Russland und in Freiheit erlebt haben. Kurz bevor er 2020 vergiftet wurde und im Flugzeug zusammenbrach, hatte er sie in Tomsk besucht. Damals überlebte er knapp, erholte sich in Deutschland, wurde bei seiner Rückkehr nach Moskau aber sofort verhaftet. Xenia Fadejewa hat das alles miterlebt und trotzdem weitergemacht, bis die Polizei auch sie festnahm. Als Nawalny vor einem Jahr im Straflager starb, saß sie in Sibirien im Gefängnis. Sie war zu neun Jahren verurteilt worden.

SZ: Vor einem Jahr saßen Sie noch im Straflager, im Sommer 2024 wurden Sie mit anderen politischen Gefangenen ausgetauscht. Wie geht es Ihnen heute?

Xenia Fadejewa: Mir geht es definitiv besser als vor einem Jahr. Ich lebe jetzt in Litauen, in Vilnius. Ich habe ziemlich viele Freunde, Bekannte, meine ehemaligen Kollegen, ich kann also nicht sagen, dass ich mich hier einsam fühle.

Sie gehörten zu Nawalnys Team, wie gut kannten Sie ihn?

Ich habe Alexej bei der Eröffnung seines Büros in Tomsk kennengelernt, im Frühjahr 2017. Er war in ganz Russland unterwegs, um Büros zu eröffnen, und kam auch nach Tomsk. Mein Tag begann damals damit, dass jemand den Eingang zu meiner Wohnung mit Bauschaum zugeklebt hatte. Alle Reifen meines Autos waren durchlöchert, der Auspuff verstopft, die Motorhaube mit Farbe bemalt.

Jemand wollte verhindern, dass Sie zu dem Treffen fahren.

Als ich dort ankam, sagte ein Polizist, dass ein Sprengsatz im Gebäude sei. Alexej setzte das Treffen draußen fort, im März gibt es in Tomsk Schnee und Schneeverwehungen. Danach habe ich ihn noch ein oder zwei Mal gesehen. Und dann natürlich im August 2020.

„Er war Optimist durch und durch“: Alexej Nawalny grüßt durch die Scheiben des Glaskäfigs im Bezirksgericht Babuskinskij, vor dem er im Februar 2021 steht. (Foto: Alexander Semljanitschenko/dpa)

Kurz bevor er vergiftet wurde.

In Tomsk fanden Wahlen für die Stadtduma statt. Mein Kollege Andrej Fatejew und ich kandidierten. Alexej flog zuerst nach Nowosibirsk, kam dann mit dem Auto zu uns nach Tomsk. Wir drehten einen Film über Mitglieder von „Einiges Russland“, die mit den öffentlichen Versorgungsbetrieben zu tun hatten, die alles monopolisierten. Drei Tage lang waren wir von morgens bis abends zusammen. Alexej schien mir sehr offen zu sein. Es gab diesen Mythos, dass Nawalny ein autoritärer Anführer sei. Das ist absolut nicht wahr. Es war ihm sehr wichtig, dass seine Unterstützer verstanden, was er tat. Er wollte, dass wir, die Tomsker Aktivisten, ihm alle Fragen stellten, auch unangenehme. Am 20. August flog er zurück nach Moskau.

Erinnern Sie sich an den Abschied damals?  

Es war Sommer, und Alexej hatte so eine lustige Tradition: Er badete an allen möglichen Stellen, die nicht dafür ausgewiesen waren. Tomsk liegt am Fluss Tom, aber der ist innerhalb der Stadtgrenzen nicht sehr sauber. Wir boten ihm an, in Kaftantschikowo baden zu gehen, einem Dorf nicht weit weg. Später erzählten russische Propagandisten viel über dieses Kaftantschikowo, dass Alexej dort mit seinen Freunden selbstgebrannten Schnaps getrunken habe und ihm deshalb im Flugzeug schlecht geworden sei. Es gab natürlich keinen Schnaps. Wir kamen am Flussufer an, es war bereits Nacht. Und niemand außer Alexej und dem Kameramann ging ins Wasser. Danach stiegen wir in unsere Autos und fuhren zurück, die Jungs mussten am nächsten Tag früh los.

Wie haben Sie von der Vergiftung erfahren?

Am nächsten Tag sah ich einen Tweet von Kira Jarmysch, Alexejs Pressesprecherin. Alexej sei im Flugzeug krank geworden. Der erste Gedanke an eine Vergiftung bestätigte sich bald. Wir alle waren schockiert. Das war ein Wendepunkt im Verhältnis zwischen den Behörden und der Opposition. Bis dahin wussten wir alle, dass sie Leute ins Gefängnis stecken können, zu Verwaltungsstrafen verurteilen, bei Kundgebungen verprügeln, Strafverfahren fälschen. Aber dass der Oppositionsführer mit chemischen Waffen vergiftet würde, konnte ich mir nicht vorstellen. Mir ist klar, dass das im Jahr 2025, nach all dem Grauen, ziemlich naiv klingt. Aber ich spreche von meinen Gefühlen im Jahr 2020. Damals sah es nicht danach aus, dass wir bald geschlossen, gesperrt, verboten, vernichtet würden.

Genau das ist dann aber passiert. 

Alexej Nawalny im Juni 2023 im Bild einer Videoübertragung, über die er zu einer Anhörung vor Russlands Oberstem Gerichtshof verbunden war. Er wirkt stark abgemagert. (Foto: Foto: Alexander Semljanitschenko/dpa)

Das geschah nicht abrupt an einem Tag. Alexej wurde vergiftet. Wir wurden aber nicht von den Wahlen ausgeschlossen. Und wir gewannen die Wahlen. Niemand hat versucht, das irgendwie anzufechten. Ich kandidierte sogar für den Vorsitz in der Stadtduma. Wir haben ganz normal als Abgeordnete gearbeitet. Und dann kündigte Alexej an, dass er nach Russland zurückkehren würde.

Er wurde gleich am Flughafen festgenommen, in ganz Russland gab es Proteste. 

In Tomsk gab es die größten ungenehmigten Proteste der vergangenen Jahre. Die Polizei nahm die Organisatoren, also uns, fest. Wir bekamen eine Geldstrafe. Es gab weitere Kundgebungen. Und wir arbeiteten irgendwie weiter als Abgeordnete. Dann kam im April 2021 die Nachricht, dass die Staatsanwaltschaft Nawalnys regionale Büros als extremistische Organisationen einstufen wolle. Ein paar Tage später verkündeten wir alle, dass wir unsere Arbeit einstellen. Wir haben unser Büro geschlossen. Aber ich blieb Abgeordnete. Ich schrieb weiterhin Appelle, lokale Beamte reagierten darauf. Im November wurde Lilija Tschanyschewa verhaftet (Leiterin von Nawalnys Büro in Ufa, Anm. d. Red.). Da wurde klar, dass die meisten Koordinatoren wohl nicht davonkommen würden. Ende Dezember holten sie mich ab.

„Der Mann war absolut furchtlos.“

Wieso sind Sie geblieben, wie hält man das aus? 

Auswandern habe ich gar nicht in Betracht gezogen. Ich habe sehr gerne in Tomsk gelebt. Ich habe klar unterschieden zwischen einem verrückten Staat und einem schönen Land, guten Menschen, die mir sehr nahestehen, meiner Heimat eben. Ich konnte einfach nicht weg. Nur ein Jahr zuvor hatte ich meinen Wählern gesagt, dass ich mich für ihre Interessen einsetzen, mich nicht verstecken würde: Hier ist meine Telefonnummer, rufen Sie mich jederzeit an. Nachdem wir gewählt worden waren, man uns vertraute, wollte ich nicht gehen.

Hat Nawalnys Beispiel Ihnen Mut gemacht?

Ich glaube schon. Aber natürlich sind wir alle in dieser Hinsicht weit von Alexej entfernt. Der Mann war absolut furchtlos. Ich erinnere mich an ihn als aufrichtig, sehr mutig, sehr überzeugt davon, dass er recht hat. Und er hatte einen großen Sinn für Humor, hat immer Witze gemacht. Er war Optimist durch und durch. Und sehr selbstironisch. Er hatte nichts von dem Pathos vieler Politiker.

Als er starb, waren Sie bereits in Haft. Wie haben Sie davon erfahren?

Das war ein Freitag. Morgens hatten mich meine Eltern in der Haftanstalt besucht, meine Stimmung war gut. Am Abend schauten meine Zellennachbarn Nachrichten im Fernsehen, und ich saß oben auf meinem Bett und beantwortete Briefe. Der Sprecher teilte völlig trocken mit, dass Alexej Nawalny sich bei seinem Spaziergang krank fühlte und der Krankenwagen nicht mehr rechtzeitig kam. Ich war völlig starr, konnte es nicht glauben. Mein erster Gedanke war, dass es eine Lüge sein musste, dass sie ihn jetzt nur irgendwo verstecken, ihn isolieren.

Der russische Oppositionsführer und seine Frau Julia im September 2020: Wegen des Giftanschlags war er mehr als einen Monat in der Berliner Charité behandelt worden. (Foto: Navalny/Instagram/AP/dpa)

Sie waren auch isoliert, allein gelassen mit dieser Nachricht. Gab es nach dem Austausch Menschen, die Sie aufgefangen haben?

Wir wurden in Ankara ausgetauscht, flogen nach Köln-Bonn. Dann wurden wir im Militärkrankenhaus in Koblenz medizinisch untersucht. In einem separaten Raum warteten danach die Leute von Nawalnys Stiftung für Korruptionsbekämpfung auf uns. Sie warteten dort mit Blumen, und natürlich umarmten wir sie. Wir konnten endlich reden.

„Die russischen Behörden betrachten uns alle als Kriminelle.“

Wie ist es für Sie, jetzt im Ausland zu leben?

Ich würde wirklich gerne zurück. Ich habe hier bereits einen neuen Pass beantragt, weil mein alter abgelaufen war. Aber wegen des Urteils gegen mich wurde das abgelehnt. Es ist ein sehr lustiges Dokument, es klingt so, als ob ich immer noch im Gefängnis sitzen müsste. Die russischen Behörden betrachten uns alle als Kriminelle. Meine Begnadigung ist nicht wirklich eine Begnadigung. Deswegen ist es jetzt leider unmöglich, zurückzukehren. Aber sobald sich in Russland etwas ändert, sitze ich im ersten Flugzeug.

Wie kann Ihre Arbeit im Exil weitergehen?  

Schwer zu sagen. Wie unterschied sich Alexej von anderen Oppositionellen? Er war wahrscheinlich der Erste, der in die Regionen ging. Dort richtete er Zentralen ein, die zum Treffpunkt für oppositionelle Kräfte und für Aktivisten wurden. Wir gingen zu Wahlen, unterstützten unabhängige Kandidaten, arbeiteten vor Ort. Russland ist riesig, und es ist falsch, wenn Politik nur in Moskau stattfindet. Jetzt ist diese Arbeit unmöglich geworden. Politik im Exil ist schwierig. Was mich betrifft, so möchte ich jetzt politischen Gefangenen helfen, die noch in Russland sind.

Und wie sehr fehlt Nawalny der russischen Opposition?

Leider denke ich, dass Alexej unersetzlich war, mit dieser seltenen Kombination aus Charisma und Mut. Jetzt gibt es Julia Nawalnaja, die es natürlich sehr schwer hat. Sie hat ihren Mann unterstützt, aber sie wollte sicher nicht Oppositionsführerin werden. Ich denke ohnehin, dass jetzt kein Politiker die Situation in Russland ändern kann. Weil Russland eine Diktatur und ein kriegsführendes Land ist, ein Staat, der absolut jede Initiative unterdrückt. Ich mache mir also keine Illusionen, dass ein Übermensch aus dem Nichts auftauchen und Russland die Freiheit bringen wird.

Welche Hoffnung gibt es dann?

Ich denke, dass die Zeit auf unserer Seite ist. All diese alternden Menschen, die leider an der Spitze unseres Landes stehen, werden irgendwann verschwinden. Regime wie das russische können sich einerseits Jahrzehnte halten, andererseits aber auch an einem Tag zusammenbrechen. Das ist mein Eindruck. Es kommt eine harte Übergangsphase nach Putin. Wir dürfen diese Zeit nicht verpassen, wir müssen bereit sein. Es wird eine Chance für alle geben, die Russland als freies und friedliches Land sehen wollen.

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Von Silke Bigalke und Frank Nienhuysen

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