Die Bedeutung des Todes von Osama bin Laden für die USA lässt sich kaum überschätzen. Am 2. Mai 2011 war klar: Der Verantwortliche für die Anschläge von 9/11 mit knapp 3000 Toten lebte nicht mehr - und die traumatisierte US-Gesellschaft konnte einen Schlussstrich ziehen. Auch für Barack Obama ist der Tag enorm wichtig: Der Demokrat hatte Führungsstärke bewiesen - im Wahlkampf 2012 wurde dieses Thema ebenso oft betont wie die Gesundheitsreform Obamacare. Vizepräsident Joe Biden brachte Obamas erste Amtszeit auf den Punkt: "General Motors lebt, Bin Laden ist tot."
Mit dem Spielfilm "Zero Dark Thirty" hat sich ein Narrativ verfestigt, wie die Operation damals angeblich ablief: CIA-Agenten finden heraus, wer Bin Ladens Kurier ist, 23 US-Elitesoldaten fliegen ins pakistanische Abbotabad, ein Hubschrauber stürzt fast ab, der Terrorfürst wird getötet und seine Leiche später von einem Flugzeugträger aus im Meer bestattet - die Amerikaner sagen, sie hätten dabei das muslimische Ritual beachtet. Mittlerweile belegen Dokumente, welch großen Einfluss der Geheimdienst CIA auf das Skript von "Zero Dark Thirty" hatte - und dass die Bedeutung der durch Folter gewonnenen Erkenntnisse übertrieben wurde. Seitdem wurden auch viele Details (Bin Laden war nicht bewaffnet und nutzte seine Ehefrau nicht als Schutzschild) korrigiert oder werden angezweifelt.
Mit der Frage, "was wir wirklich über den Tod von Osama bin Laden wissen", beschäftigt sich Jonathan Mahler in einem Artikel für das New York Times Magazine. Sein Fazit: Vieles ist bekannt, aber alles werden die Bürger niemals erfahren. Und er argumentiert, dass - gerade nach den Snowden-Enthüllungen - niemand erwarten kann, dass die US-Regierung alle Fakten offenlegt.
Da Mahler bei der NYT nicht über Geheimdienste, sondern über Medien-Themen schreibt, setzt er zwei Schwerpunkte: Einerseits beschreibt er, wie viele Akteure - Weißes Haus, Drehbuchautoren, Journalisten - daran beteiligt waren, dass sich die oben beschriebene Version als Narrativ durchsetzte. Andererseits setzt sich Mahler genau mit den prominentesten Kritiker der Obama-Version auseinander: dem investigativen Starjournalisten Seymour Hersh.
Was ist dran am Vorwurf, Obama belüge die Welt?
Der 78-Jährige, der etwa das My-Lai-Massaker während des Vietnamkriegs sowie die US-Foltergefängnisse in Abu Ghraib aufgedeckt hat, bezweifelt nicht, dass Bin Laden tot ist. Doch er argumentiert, dass die Obama-Regierung die Amerikaner und die Welt belüge. So habe nicht die Überwachung des Kuriers zu Bin Ladens Versteck geführt - ein Überläufer des pakistanischen Geheimdiensts habe dafür 25 Millionen Dollar kassiert.
Hersh ist zudem überzeugt, dass Pakistans Geheimdienst informiert gewesen sein muss - niemals sonst wären die Black Hawk-Helikopter unbemerkt geblieben. NYT-Redakteur Mahler hält das für plausibel und verweist auf Artikel der Website Global Post, wonach die Nachbarn des Bin-Laden-Hauses am Vorabend von Geheimdienstlern in Zivil angewiesen worden seien, in ihren Häusern zu bleiben. Mahler spricht nicht nur ausführlich mit Hersh über dessen Argumente, sondern auch mit Redakteuren des New Yorker, wo die meisten Artikel von Hersh publiziert werden. "Meine Quellen in Pakistan haben mich entsetzt angestarrt, als ich sie mit Seymours Thesen konfrontrierte", sagt Dexter Filkins über seine Recherchen.
Nachdem Hershs Text im Mai 2015 in der London Review of Books erschienen war, zweifelten fast alle großen amerikanischen und internationalen Medien an dessen Inhalt und sprachen von "Verschwörungstheorien" ( Hintergrundinfos hier). Hersh stört die Kritik nicht. Der legendäre Investigativ-Journalist wirkt enorm selbstbewusst, wenn er sagt: "Die Regierung hält mehr Dinge geheim, als Sie sich vorstellen können. Im Nahen Osten passieren gerade unglaubliche Dinge, über die ich schreiben werde, sobald es möglich ist."
Zugegeben: Eigene Exklusiv-Informationen enthält der lange Artikel im New York Times Magazine nicht. Lesenswert ist er dennoch, weil er aufzeigt, wie leicht die Gesellschaft und Medien einem Narrativ glauben wollen - und vieles rückblickend in diesem Sinne interpretiert wird. Mahler erinnert daran, dass bis heute wichtige Dokumente über die CIA-Aktion in der kubanischen Schweinebucht unter Verschluss sind und daher vieles unbekannt ist.
Warum Regierungen niemals alles verraten werden
Er mahnt zu einer Mischung aus Gelassenheit und Realismus: Gerade bei sensiblen Aktionen sollten die Bürger nicht erwarten, dass die Regierenden alles verraten würden. Wenn es einen Überläufer gab, der den entscheidenden Tipp gab, dann tut die CIA gut daran, dessen Existenz zu leugnen. So kann er geschützt werden - und potenziellen Informanten gezeigt werden, dass die USA für deren Sicherheit sorgen. Und es bedarf keiner allumfassenden Verschwörung, um Unangenehmes zu verbergen: Hersh selbst betont oft, dass Tausende von der Massenüberwachung der NSA gewusst hätten - und erst Edward Snowden informierte die Öffentlichkeit.
Doch vielleicht trägt noch ein anderer Faktor zur Verwirrung bei. Obamas Verteidigungsminister Robert Gates - ein Republikaner - schrieb 2014 in seinen Memoiren, dass alle, die im "Situation Room" Teile der Operation an Bildschirmen mitverfolgten (jedoch nicht die Tötung von Bin Laden), völlige Verschwiegenheit zugesichert hätten. "Doch sie alle konnten es nicht lassen und haben damit angegeben, wie wichtig ihre Rolle bei der Aktion angeblich war", spottet Gates.
Womöglich trägt eine andere Biografie in einigen Jahren dazu bei, die Sache ein wenig aufzuklären: Die für seine politische Karriere so wichtigen Stunden Anfang Mai 2011 wird Barack Obama in seinen Memoiren sicher nicht aussparen. Doch auch der 44. US-Präsident wird nicht alles verraten, was er weiß.
Linktipp: Nach dem Erscheinen des Artikels im NYT-Magazine hat sich Mark Bowden zu Wort gemeldet. Bowden ist Autor des Buches "The Finish", in dem der Tod von Bin Laden erzählt wird. Bowden hält an seiner Version fest und wirft Jonathan Mahler vor, Verschwörungstheorien zu verbreiten.