Terrorismus:Der Führer ist tot, der IS lebt

Anders als Osama bin Laden hat Abu Bakr al-Bagdadi seine Anhänger nie durch Charisma fasziniert. Sein Führungsanspruch leitete sich aus der Idee vom Kalifat ab. Die Anziehungskraft dieser Idee wird bleiben.

Kommentar von Moritz Baumstieger

Er ist tot, der selbsternannte Kalif, dieses Mal wohl wirklich. Schon mehrere Male wurde gemeldet, der IS-Führer Abu Bakr al-Bagdadi sei lebensgefährlich verletzt oder getötet worden. Mal durch Bomben russischer Jets, mal durch Angriffe der USA. Immer stellten sich die Nachrichten als falsch heraus. Doch nun scheint Bagdadi selbst den Auslöser einer Sprengstoffweste gezogen zu haben, als US-Spezialkräfte anrückten - nach den Worten von US-Präsident Donald Trump starb er "winselnd, heulend und schreiend" am Ende eines Erdtunnels. Seine unheilvolle Anwesenheit auf dieser Welt ist Geschichte.

Nicht jedoch sein Erbe. Trump betonte zwar mehrmals, wie unwürdig jener Mann starb, der sich zum Anführer aller gläubigen Muslime erhoben hatte - und mochte das als Nachricht an jene verstanden wissen, die sich von der Ideologie des sogenannten Islamischen Staates haben beeindrucken lassen. Falls Trump aber hofft, das Monster endgültig besiegt zu haben, indem er ihm den Kopf hat abschlagen lassen, täuscht er sich.

Bagdadi war nie ein charismatischer Führer, dessen Porträts auch noch in den hintersten Winkeln der Welt auf Plakate und Poster gedruckt wurden, so wie es etwa bei Al-Qaida-Chef Osama bin Laden der Fall war. Im krassen Gegensatz zur hochprofessionell produzierten und den Sehgewohnheiten der Smartphone-Generation entsprechenden Propaganda der Terrororganisation inszenierte sich der IS-Chef selbst äußerst spröde. Er trat nur einmal öffentlich auf, als er sich 2014 auf der Kanzel der Nuri-Moschee in Mossul als Kopf eines neuen Kalifats vorstellte. Er ließ nur einmal ein Video von sich produzieren, fünf Jahre später, als das Kalifat bereits Geschichte war. Darin forderte er seine Anhänger zum Durchhalten auf.

Einige IS-Mitglieder dürften den Tod des Führers rächen wollen

Bagdadi mag an der Spitze des IS gestanden haben. Doch was dessen Anhänger faszinierte, war nie ihr Führer, sondern die Idee eines neuerlichen Kalifats selbst, das in der Gegenwart Gestalt annimmt und nicht in einer fernen Zukunft.

Diese Idee, der die trägen und obrigkeitshörigen muslimischen Autoritäten so wenig entgegenzusetzen hatten, bleibt erhalten, in der Online- wie in der Offline-Welt. Sie überdauerte den Zusammenbruch des ersten Pseudostaates der Dschihadisten im Frühjahr 2019, sie wird auch den Tod ihres Führers Bagdadi überleben. Die schwarzen Fahnen des IS wehen noch immer in Afghanistan, am Sinai, im muslimischen Westafrika - und bald vielleicht auch wieder in seinem Kernland an der Grenze zwischen Irak und Syrien.

Im Osten Syriens, wo die kurdischen Milizen nach dem US-Abzug um ihr Überleben kämpfen, sind Hunderte IS-Mitglieder aus Lagern ausgebrochen. Einige von ihnen dürften nun den Tod des Führers rächen wollen, andere werden versuchen, sich in die Gegend durchzuschlagen, in der dieser zuletzt vermutet wurde. Das Land nahe der syrischen Grenze ist für Irak schwer zu kontrollieren, derzeit ist Bagdad zudem mit anderen Problemen beschäftigt. Irak wird von Massenprotesten erschüttert, denen die Regierung nichts entgegenzusetzen weiß. Dieses Machtvakuum auf beiden Seiten der Grenze werden die Dschihadisten zu nutzen versuchen, gerade jetzt, da sie besiegt erscheinen. Doch solche Krisen hat der IS schon mehrmals überlebt. Seinen Mythos nährt er aus seiner gleichzeitigen Beständigkeit und Wandlungsfähigkeit - nicht aus dem Charisma seiner Führer.

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