Aktuelles Lexikon:Auswendig

Eine Meisterleistung: Wie Zubin Mehta ohne Partitur dirigierte.

Von Andrian Kreye

Einer der beeindruckendsten Momente des berührenden Abschiedskonzerts der BR-Symphoniker für ihren verstorbenen Dirigenten Mariss Jansons war, als Zubin Mehta ganz ohne Partitur den Taktstock hob. Die zweite Symphonie in c-Moll von Gustav Mahler gehört zu den mächtigsten und komplexesten Werken der klassischen Musik. Dirigierende müssen fünf Sätze voller Wechselspiele zwischen den einzelnen Orchestersektionen, viel Schlagwerk, Chor und Solosängerinnen in den Griff kriegen. Das fordert am Pult wie eine Schicht als Fluglotse auf Heathrow. Nun hat Mehta Mahlers Zweite schon sehr oft dirigiert. Routine ist das trotzdem nicht. Auswendig Gelerntes speichert sich nicht im prozeduralen Gedächtnis automatischer Handlungsabläufe, sondern im deklarativen Gedächtnis, das vor allem Erinnerungen speichert. Mehtas auswendiges Dirigat war im Alter von 83 Jahren also eine wahre Meisterleistung. Gerade weil das Auswendiglernen im digitalen Zeitalter zu den aussterbenden skills gehört, da Gedächtnisleistungen zunehmend in den digitalen Raum ausgelagert werden. Auch in der klassischen Musik. Da lesen inzwischen selbst Pianisten und Streichquartette vom Tablet ab. Was im Umkehrschluss auch heißt, dass es auf dem Arbeitsmarkt zu einer wertvollen Fertigkeit werden wird.

© SZ vom 17.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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