Liberale Demokratie:Wider die Totengräber

Liberale Demokratie: Symbolische Bauarbeiten im Mutterland der Demokratie: Ein Mensch mit Maske von Premierminister Boris Johnson schaufelt im August 2019 in London ein Grab für den Parlamentarismus.

Symbolische Bauarbeiten im Mutterland der Demokratie: Ein Mensch mit Maske von Premierminister Boris Johnson schaufelt im August 2019 in London ein Grab für den Parlamentarismus.

(Foto: Daniel Leal-Olivas/AFP)

Der Journalist Roger de Weck und der Philosoph Julian Nida-Rümelin zeigen, wie die freie Gesellschaft verteidigt werden kann.

Rezension von Cord Aschenbrenner

Mit das Beste an Roger de Wecks Streitschrift zur Verteidigung und Modernisierung der Demokratie ist die temperamentvolle Art des Schweizer Publizisten und Ökonomen, sich für die von Populisten "bedrängte liberale Demokratie" ins Zeug zu legen.

Der einstige Chefredakteur der Zeit, später Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft, hätte sich ja auch von der Höhe seiner Erfahrungen herab das bekannte Diktum Winston Churchills zu eigen machen können. Sinngemäß lautet es, dass die Demokratie von allen schlechten Regierungsarten noch die beste sei. Dann hätte de Weck wohl eher eine mürrische Bestandsaufnahme der unvollkommenen Staats- und Regierungsform Demokratie mit all ihren Fehlern geliefert.

Eine Zukunft habe die liberale Demokratie nur, meint de Weck, wenn es gelingt, das "Machtgefälle zwischen Ökonomie und Demokratie" einzuebnen, den deregulierten Finanzkapitalismus einzuhegen. "Die Politik", also die demokratisch gewählten Regierungen, hätte sich dem aus dem Geiste des Neoliberalismus entstandenen "Ultra-Kapitalismus" der beiden vergangenen Jahrzehnte nicht gewachsen gezeigt.

Hier liegt für ihn der Grund für den Aufstieg populistischer Parteien wie der AfD oder der Lega in Italien, von selbstgerechten Autokraten wie Viktor Orbán in Ungarn oder Jarosław Kaczyński und seiner Partei PiS in Polen.

Mit anderen Worten: Demokratisch gewählte Regierungen müssen den Mut haben, sich selbstbewusst mit global agierenden Konzernen an- und diesen Beschränkungen aufzuerlegen. Tun sie dies nämlich weiterhin nicht oder zu zaghaft, sondern buhlen mit Standort- und Steuervorteilen um die Gunst von Unternehmen, anstatt wie ihren Wählern versprochen zum Beispiel eine weltweite Finanztransaktionssteuer einzuführen oder globale Konzerne auf bestimmte Umweltstandards zu verpflichten - dann, so befürchtet der Autor, werden die "autoritären Reaktionäre" auch weiterhin leichtes Spiel haben.

Sie brauchen sich bloß als Alternative zur angeblich kraftlosen Demokratie (die sich ja tatsächlich in den Äußerungen ihrer Vertreter manchmal verzagt und mutlos zeigt) zu stilisieren, um die beim globalen Standortrennen Abgehängten und Entmutigten auf ihre Seite zu ziehen und ihnen zu suggerieren, dass früher, ohne EU und Einwanderung, in einer Zeit auch, als Männer noch Männer sein durften, alles besser war.

Dass weder der vorerst ruhiggestellte Matteo Salvini noch Alexander Gauland sich mit irgendwelchen Global Players anlegen würden, steht auf einem anderen Blatt. Immerhin jedoch lassen sich so Stimmen gewinnen, manchmal so viele, dass Vertreter der "Altparteien", wie die AfD sie höhnisch nennt, noch verzagter werden.

Der Schweizer Journalist fordert, Populisten mit Argumenten zu stellen

Roger de Weck hingegen ist kämpferisch gestimmt, ohne dabei polemisch zu sein. Er fordert dazu auf, die Neuen Rechten, also die reaktionären Gegner der Demokratie, mit Argumenten zu bekämpfen. Der zweite Teil seines Buches ist dem rückwärtsgewandten "Arsenal der Reaktionäre" gewidmet, den manchmal schlichten, oft kenntnisfreien (Stichwort Klimawandel), immer aber lautstarken und häufig niederträchtigen, hasserfüllten Positionen der Populisten, die sich im bloßen Dagegensein und in der Inkonsequenz erschöpfen, im "Missmutsdiskurs".

De Weck zerpflückt all das, was alte und neue Reaktionäre (die er sorgfältig von Konservativen unterscheidet) und Identitäre im Laufe der Zeit angehäuft haben, um die offene Gesellschaft und mit ihr die Demokratie zu diskreditieren. Es ist eine recht lange Liste, die verdeutlicht, was an mittlerweile Selbstverständlichem den Rechten missfällt - beileibe nicht nur eine "politisch korrekte" Sprache - und wohin sie zurückwollen.

Wie wird sich die "Kraft der Demokratie" erweisen? Wie lässt sich vermeiden, dass die "Gestrigen die Zukunft kapern"? De Weck setzt auf selbstbewusste Verteidigung der demokratischen Errungenschaften durch die Bürger, auf stärkere Kontrolle der Wirtschaft und eine besser erklärte, besser verankerte ökologisch nachhaltige Politik.

Dafür fordert er unter anderem einen Rat der Umweltweisen und eine parlamentarische Kammer für Umweltfragen. Das ist nicht wenig, und de Weck rechnet auch mit Widerstand. Interessant wäre es zu erfahren, wie nach seiner Meinung der widerstrebende Teil der demokratischen Gesellschaft überzeugt werden soll, deren ökologischen und Geld kostenden Umbau zu ermöglichen.

Der Münchner Philosoph hofft auf eine "kosmopolitische Weltordnung"

Verglichen mit der temperamentvollen Fülle von de Wecks Buch erinnert der politische Traktat (wie der Untertitel lautet) Julian Nida-Rümelins an eines jener eleganten modernen Mineralwässer, nach deren Genuss man meint, einen klareren Kopf als vorher zu haben. Wenigstens theoretisch. Und theoretisch anspruchsvoll geht es zu bei dem Philosophieprofessor Nida-Rümelin, vorsichtshalber warnt er zu Beginn selbst, das Buch verlange seiner Leserschaft "einiges ab", nämlich "teilweise komplexe philosophische Argumente".

Die Warnung ist berechtigt, Nida-Rümelins Analyse des fragilen Zustands der Demokratie verlangt stets volle Konzentration, bietet aber dafür nicht nachlassende gedankliche Klarheit, zu der man sich auch als Leser aufschwingen muss. Etwa in dem Kapitel, in dem Nida-Rümelin dem mathematischen Beweis des Wirtschaftsnobelpreisträgers Kenneth Arrow folgend begründet, dass "eine umfassende direkte Mehrheitsdemokratie mit logischer Konsequenz ins Chaos führt". Demokratie, so der Verfasser, lasse sich nicht durch das Abstimmungsverfahren, eben die Mehrheitswahl definieren.

Wie der Journalist de Weck konstatiert der Münchner Philosoph, der auch einmal Kulturstaatsminister, also handelnder Politiker war, dass der Siegeszug der Demokratie zum Erliegen gekommen ist; "illiberale Demokratien" mit einer mehr oder weniger charismatischen Persönlichkeit an der Spitze gibt es unter rechten wie linken Vorzeichen (so in Lateinamerika); sie verkörpern für ihre Wähler den Reiz, fast alle Bedenken rechtlicher, institutioneller oder internationaler Natur zu ignorieren, wie man soeben in der Corona-Krise nicht nur in Ungarn und Polen gut sehen konnte. Nida-Rümelin geht es jedoch nicht so sehr darum, die Herausforderungen für die liberale Demokratie zu zeigen, die diese zur Selbstverteidigung zwingen.

Es liegt ihm vielmehr an einem "angemessenen Verständnis dessen, was Demokratie ist". Erkennt man dies nämlich und auch, welcher Ausbesserungsarbeiten und Erneuerungsbemühungen es angesichts des weltweit sich aufplusternden Populismus bedarf, mag man die Zumutungen, ja Bedrohungen, denen die Demokratie als Lebensform ausgesetzt ist, besser bewältigen können.

Nida-Rümelin spricht von der Erosion der zivilgesellschaftlichen Bedingungen in westlichen Ländern, etwa wenn man an den Ton und die Art von Freund-Feind-Denken in öffentlichen Auseinandersetzungen denkt, das ja mittlerweile auch über den nationalen Rahmen hinaus Schule macht. In Anlehnung an Ernst-Wolfgang Böckenfördes berühmten Satz schreibt der Autor, die Demokratie lebe "von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann". Sie könne ihre zivilisatorischen Bedingungen, "eine Leitkultur des Humanismus", nicht erzwingen.

Das gilt erst recht dort, wo (noch) keine Demokratie ist oder allenfalls in Spurenelementen, wie Nida-Rümelin am Beispiel des gescheiterten Arabischen Frühlings darlegt. Keine Demokratie ohne vorausgehenden zivilisatorischen Prozess, ohne religiöse Aufklärung gegenüber religiösem Fundamentalismus und Machtanspruch von Klerikalen, ohne wissenschaftliches Weltbild.

Ähnlich wie Roger de Weck sieht Julian Nida-Rümelin die liberale Weltordnung zu einer "Strategie des Staatsabbaus und der finanzwirtschaftlichen Globalisierung" herabgesunken, instrumentalisiert durch wirtschaftliche und geostrategische Interessen; gegen ihre autoritären, populistischen, nationalistischen Feinde wird sie so schwerlich bestehen. Nida-Rümelin will sie durch eine Alternative, "eine kosmopolitische Weltordnung, die auf globale Rechts- und Sozialstaatlichkeit setzt", ablösen.

Eine weltweit gültige Rechtsordnung, das Primat der Politik auch in Bezug auf die Märkte, die Ausdehnung der Demokratie auf die Weltgesellschaft - das ist es, was dem Verfasser unter anderem vorschwebt. Wünschenswert ist das natürlich, auch wenn die Umsetzung wenig wahrscheinlich ist. Aber dafür sind Philosophen auch nicht zuständig. Dass die beiden lebens- wie politikerfahrenen Autoren Nida-Rümelin und de Weck vor hochgestimmtem, gleichwohl begründetem Idealismus nicht zurückschrecken, macht ihre jeweilige Auseinandersetzung mit der Demokratie erst recht glaubwürdig.

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