AKP:Davutoğlu - entmachtet vom großen Bruder

  • Die öffentliche Demontage von Premier Davutoğlu in der Türkei hat vor wenigen Tagen begonnen.
  • Die "Akte Pelikan" erzählt im Netz davon, wie Davutoğlu angeblich beharrlich darauf hingearbeitet haben soll, Präsident Erdoğan zu entmachten.
  • Als hätte die Türkei nicht schon genug Probleme, kommt jetzt auch noch eine Regierungskrise hinzu.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Ungewöhnliches passiert in der Türkei. Im Internet tauchte diese Woche eine Seite auf, die "Akte Pelikan". Keine Bilder, nur Text. Aber jeder einzelne Satz hat es in sich. Die Akte Pelikan erzählt die Geschichte einer Entfremdung. Sie zielt tief ins Innere der türkischen Politik. Und sie erschüttert die Staatsspitze.

Es geht um Ahmet Davutoğlu, Premierminister der Türkei und um Recep Tayyip Erdoğan, den Staatspräsidenten. Die Akte Pelikan erzählt davon, wie aus Weggefährten Gegner wurden. "Eigentlich wissen nur ganz wenige, was da wirklich los ist", schreibt der anonyme Verfasser. "Es ist wie ein Albtraum." Und dann erzählt er, wie Davutoğlu angeblich beharrlich darauf hinarbeitet, Erdoğan zu entmachten.

Normalerweise bleibt vieles, was der Regierung schaden könnte, nicht lange im Internet stehen. Die Behörden sind schnell dabei zu sperren und zu löschen. Aber die Akte Pelikan bleibt im Internet. Sie bleibt, bis ihr Gift die Wirkung voll entfaltet. Am Donnerstag ist es so weit. Davutoğlu tritt vor seine Partei, die AKP, um eine Abschiedsrede zu halten.

"Wenn meine Freunde nicht mit mir sind, erwarte ich, dass sie es mir sagen"

Schwere Tage liegen hinter ihm. In diesem Moment scheint er aber mit sich im Reinen zu sein. Er sei nicht vom Weg abgekommen, sagt er. Er habe die Partei durch schwierige Zeiten geführt. Er habe ihr Trost zugesprochen, als sie im Sommer vor einem Jahr bei der Wahl die Alleinregierung verlor. Und er führte die AKP aus diesem Tal wieder heraus, als es im November zu Neuwahlen kam. Aber nun gehe es um die Einheit der AKP, und er habe sich entschlossen, die Partei am 22. Mai zu einem Sonderparteitag zusammenzurufen. Sie soll einen neuen Chef bekommen.

Nur er, Davutoğlu, stehe nicht mehr für diesen Job zur Verfügung.

Es gibt nur wenige Momente in seiner Rede, in denen Bitterkeit aufscheint. In diesem zum Beispiel: "Wenn meine Freunde nicht mit mir sind, erwarte ich, dass sie es mir sagen."

Ein Machtkampf geht zu Ende. Und Davutoğlu verliert alles. Nach Logik dieser machtversessenen Partei kann er auch nicht länger Regierungschef bleiben.

Die öffentliche Demontage des Premiers läuft seit einigen Tagen

Die öffentliche Demontage Davutoğlus hat vor wenigen Tagen begonnen. Am Montag berichteten die ersten Zeitungen ausführlich über die Akte Pelikan. Am Dienstag hatte Davutoğlu im Parlament einen denkwürdigen Auftritt vor Parteikollegen. Seine Rede vor der AKP-Fraktion dauerte nur 28 Minuten. So kurz hatte er noch nie gesprochen. Er sagte, es sei bereit, seine Posten zur Verfügung zu stellen. Am Mittwochabend fährt Davutoğlu um 18.28 Uhr zu einem Krisengespräch mit Erdoğan.

Es ist der Tag, an dem die Europäische Union den Weg zur Abschaffung der Visapflicht ebnet. Das müsste eigentlich ein Freudentag für die Türken sein. Aber im politischen Ankara hat man ganz andere Sorgen. Es gibt ein Foto der Zusammenkunft von Erdoğan und Davutoğlu. Es erzählt eine andere Geschichte als die von zwei "engen Brüdern", die Davutoğlu bei seinem Abschied am Donnerstag bemüht. Das Foto strahlt nur eisige Kälte aus. Nach einer Stunde und 40 Minuten sind Erdoğan und Davutoğlu miteinander fertig. Als hätte die Türkei nicht schon genug Probleme, kommt jetzt auch noch eine Regierungskrise hinzu.

Wie konnte es dazu kommen? Ein AKP-Politiker, der beide Männer gut kennt, aber anonym bleiben möchte, wird selbst überrascht von den Entwicklungen. Aber er hat Erklärungen. Es gehe um das Abi-Prinzip sagt er. Abi, ist türkisch und heißt übersetzt: großer Bruder.

Der große Bruder ist natürlich Erdoğan.

Davutoğlu war damals nicht die erste Wahl in der AKP

Und dieser Vergleich zeigt schon, wie Politik in der AKP funktioniert und warum Erdoğans politischer Einfluss aus Sicht seiner Anhänger mit Parteistatuten und der Verfassung nicht angemessen genug beschrieben werden kann. Der Konflikt schwele zwischen Davutoğlu und Erdoğan, seitdem Erdoğan das erste Mal habe Macht abgeben müssen. Bis 2014 war er Regierungschef und führte die Partei. Damals ließ er sich vom Volk zum Staatspräsidenten wählen. Mit dem Parteivorsitz war sein neues Amt laut Verfassung aber nicht vereinbar. Erdoğan brauchte jemanden, dem er sein Lebenswerk anvertrauen konnte, seine AKP.

Davutoğlu war damals nicht die erste Wahl in der AKP. Der frühere außenpolitische Chefberater war zum Außenminister aufgestiegen. Für manche Anhänger ist der 57-Jährige immer ein Theoretiker geblieben, weil er vor seiner politischen Karriere Uniprofessor war. Zu wenig charismatisch. Ein bisschen steif. Hoca, der Professor, nennt ihn auch der Verfasser der Pelikan-Akte bewusst abfällig.

Der AKP-Politiker sagt: "Davutoğlu wusste, unter welchen Vorgaben er zum Parteivorsitzenden auserwählt wurde. Erdoğan erwartet, dass wichtige Entscheidungen mit ihm abgesprochen werden."

Turkish Prime Minister Ahmet Davutoglu leaves a news conference at his ruling AK Party headquarters in Ankara

Ahmet Davutoğlu verlässt am Donnerstag die Pressekonferenz, auf der er seinen Rückzug bekannt gegeben hat.

(Foto: Umit Bektas/Reuters)

Wo Davutoğlu Milde zeigt, fordert Erdoğan Härte

Aber das tat Davutoğlu nicht. Anstatt sich immer den Rat des großen Bruders zu holen, agierte er eigenmächtig. Davutoğlu wollte Erdoğans Einfluss in der Partei zurückzudrängen, indem er versuchte, seine eigenen Leute in Stellung zu bringen. Er hatte auch eine andere politische Agenda als der Präsident. Als die AKP im vergangenen Sommer bei der Parlamentswahl die absolute Mehrheit verpasste, wäre Davutoğlu wohl eine Koalition eingegangen. Aber Erdoğan war nicht zu Zugeständnissen bereit, und es kam zu Neuwahlen, welche die AKP haushoch gewann.

Wo Davutoğlu Milde zeigt, fordert Erdoğan Härte. Dass es im Moment keine Chance gibt, die Friedensgespräche mit der PKK wieder aufzunehmen, liegt an Erdoğan, Davutoğlu wäre beweglicher. Bei Erdoğans wichtigstem Projekt, dem Umbau der Staatsspitze zum Präsidialsystem mit neuen Befugnissen für sich, steht Davutoğlu auf der Bremse. In der AKP erzählt man sich, dass schon seit zwei, drei Monaten an der Ablösung Davutoğlus gearbeitet wurde. Zum Bruch mit der Partei kam es, als Ende April der Parteivorstand Davutoğlu die Befugnis entzog, Funktionäre auf regionaler Parteiebene zu benennen. Man müsse stoppen, dass er nach der Partei greift. In der Abstimmung war Davutoğlu isoliert. Oder wie es der AKP-Politiker formuliert: "Wenn die Partei vor der Entscheidung stünde, dann würden die allermeisten auf der Seite Erdoğans stehen."

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